
Keine Verkleidung ohne Kleider: Die Staatsgalerie hat für ihre Werkschau von Cindy Sherman, die im Oktober nach Hamburg wandert, passenderweise das Thema Mode ausgewählt. Seit fast einem halben Jahrhundert hantiert die berühmteste und höchstbezahlte Gegenwartskünstlerin der Welt mit modischen Versatzstücken – umgekehrt wurde sie von etlichen Modefirmen engagiert. Ob sie jedoch „Anti-Fashion“ propagiert, wie der Titel behauptet, erscheint fraglich.
Info
Cindy Sherman – Anti-Fashion
21.04.2023 - 10.9.2023
täglich außer montags 10 bis 17 Uhr,
donnerstags bis 20 Uhr
in der Staatsgalerie, Konrad-Adenauer-Str. 30 - 32, Stuttgart
Katalog 29,90 €
Weitere Informationen zur Ausstellung
07.10.2023 - 28.01.2024
samstags + sonntags 12 bis 17 Uhr, Eintritt frei
Führungen freitags 15 + 17 Uhr
in der Sammlung Falckenberg, Wilstorfer Str. 71, Hamburg-Harburg
Weitere Informationen zur Ausstellung
Repräsentative Bildformeln für Schräges
Wobei der Charme und Witz ihrer Aufnahmen darin besteht, dass Sherman auf einem schmalen Grat balanciert. Großformate, sorgfältig ausgeleuchtete und detailverliebte Kompositionen, Fokussierung auf die dargestellte Person: All das sind Bildformeln repräsentativer Bildnisse seit der Renaissance. Doch die Figuren, die Sherman verkörpert, sind fast ausnahmslos schräge Gestalten mit allen möglichen Macken. Durch den Widerspruch zwischen Form und Inhalt entstehen Spannung und Ironie.
Genau deshalb wurde die Modeindustrie früh auf Sherman aufmerksam. 1983 ließ eine New Yorker Boutiquen-Inhaberin sie in Designer-Kleidung von Issey Miyake oder Jean Paul Gaultier schlüpfen; die Aufnahmen wurden als Werbung in Andy Warhols „Interview“-Magazin abgedruckt. Ein Jahr später sollte sie Reklame für die Kollektion der französischen Marke „Dorothée bis“ machen. Weil sie die langweilig fand, griff sie zu Schock-Ästhetik: Ihre Frauen in Pullovern und Strickkleidern sahen depressiv, debil oder wahnsinnig aus – samt Blut an den Händen. Das erschien dem Auftraggeber geschäftsschädigend; die Motive blieben unpubliziert.
Feature zur Ausstellung; © Staatsgalerie Stuttgart
Mit coolness zur win-win-Situation
Damit waren aber die Spielregeln für künftige Kooperationen abgesteckt. Sherman lieferte visuelle Grenzüberschreitungen, die scheinbar nichts mit PR oder Imagepflege zu tun hatten – und somit den coolness-Faktor für Modefirmen, die ein markant-exzentrisches Profil kultivieren wollten. Umgekehrt verbreiteten Kampagnen solcher Firmen ihre Bilder in Bereichen jenseits des Kunstbetriebs. Sie erreichten damit ein Massenpublikum; betriebswirtschaftlich eine win-win-Situation.
1984 hatte Sherman ihre Provokationen noch übertrieben; danach mäßigte sie sich. Zugleich stieg in der Modebranche die Akzeptanz für Bildsprachen abseits des üblichen Hochglanz-Mainstreams. 1993 brachte das Magazin „Harper’s Bazaar“ eine Fotostrecke: Shermans Bilder waren grell und schrill, aber nicht abstoßend. Was der japanischen Gründerin des Labels „Comme des Garçons“ Rei Kawakubo so gut gefiel, dass sie Sherman völlige Freiheit ließ: Nun wurde Freak-Werbung mit etwa einem suizidalen Punk in Gaze-Tüll und einer Federmasken-Trägerin in Hamlet-Pose salonfähig.
Opulente Monotonie
In den Folgejahren belieferte sie die Modeindustrie mit immer üppigeren Inszenierungen: grotesk geschminkte Clowns für die „British Vogue“ 2003, verlebte party people für Balenciaga 2007, Fotocollagen mit Vintage-Stücken aus dem Archiv von Chanel vor digital manipulierten Panoramen für die Modezeitschrift „POP“ 2010 und fünf unterschiedliche Titelblätter für die US-Ausgabe von „Harper’s Bazaar“ 2016. Alles quietschbunt und aufgedonnert, aber zunehmend austauschbar, wie diese Retrospektive in opulenter Monotonie vorführt.
Gewissermaßen ist Sherman ein doppeltes Opfer – ihrer eigenen Beliebtheit wie derjenigen von Social Media. Schon 2015 klagte sie, ihr falle kaum noch etwas ein, womit sie noch überraschen könne. Was weniger an ihr selbst liegt: In einer bildersüchtigen Welt, in der narzisstische Lust an der Selbstdarstellung millionenfach im Internet ausagiert wird, gehen ihre Rollenspiele schlicht unter. Da die Motive so bekannt und weit verbreitet sind, wirken sie zusehends banal.
Jammerlappen vor Pseudo-Landschaften
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Cindy Sherman: Works from the Olbricht Collection" – opulente Retrospektive mit 65 Werken im me Collectors Room/ Stiftung Olbricht, Berlin
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Feministische Avantgarde der 1970er Jahre" – grandiose Überblicks-Schau zu Kunst + Emanzipation mit Werken von Cindy Sherman im ZKM, Karlsruhe
und hier einen Bericht über den Film "Jean Paul Gaultier: Freak & Chic" – Doku über die Abschiedsshow des Design-Exzentrikers von Yann L’ Hénoret
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Starke Stücke – Feminismen und Geographien" – facettenreiche Themen-Schau in der Stadtgalerie Saarbrücken.
Wohlgemerkt: Beide sind zwei Mal Sherman in verschiedenen Outfits. Was daran zu erkennen ist, dass beide denselben zarten Oberlippenflaum tragen. Die kaum merkliche Geschlechterdifferenz, nur an wenigen Gesten und Accessoires ablesbar, mögen Queerness-Aktivisten als Ausweis von nonbinärer Genderfluidität bejubeln. Auf neutrale Betrachter wirkt das als glamouröse Bankrotterklärung: Derart degenerierte Gestalten haben nicht mehr viel Zukunft vor sich.
Dialektik des Selbst-Dementis
Wie vielleicht das Werk von Cindy Sherman insgesamt; gerade weil es bislang so unerhört erfolgreich war. Ihr letzlich simples Strickmuster entgeht nicht der Dialektik, die jede Kunst ereilt, die vermeintlich kommerzkritisch die tausend Facetten von Konsumfetischismus aufspießt. Da mag sie noch so sperrig und widerständig auftreten, bis zu Blut an den Händen – sobald sie zum Werbeträger für Warenhersteller wird, dementiert sie sich selbst und dient nur noch einem: Produkte zu verkaufen.