Berlin

Edvard Munch – Zauber des Nordens

Edvard Munch: Die Frau, 1925, Foto: © MUNCH, Oslo / Ove Kvavik. Fotoquelle: Berlinische Galerie
Sprungbrett für die Skandalnudel: Als 1892 seine Solo-Schau in Berlin nach drei Tagen schloss, kam der norwegische Maler groß heraus – und blieb 16 Jahre lang. Seine höchst produktiven Jahre in der Hauptstadt zeichnet eine üppig bestückte Ausstellung in der Berlinischen Galerie facettenreich nach.

Skandale nützen immer; auch Edvard Munch wusste, dass negative Presse besser ist als gar keine. 1892 wurde seine erste Einzelausstellung in Berlin nach nur drei Tagen geschlossen. An seine Tante schrieb er: „Das ist übrigens das Beste, was passieren kann, bessere Reklame kann ich gar nicht haben.“ Unverzüglich zog Munch in die Reichshauptstadt um. Ein fulminantes Debüt! Vielleicht wäre der Norweger, der heute als Pionier der Moderne gilt, niemals derart bekannt geworden, hätte er nicht mit einem Knalleffekt das Rampenlicht auf sich gerichtet.

 

Info

 

Edvard Munch – Zauber des Nordens

 

15.09.2023 - 22.01.2024

 

täglich außer dienstags 10 bis 18 Uhr,

donnerstags bis 20 Uhr

 

in der Berlinischen Galerie, Alte Jakobstraße 124 -128, Berlin

 

Katalog 39,80 €

 

Weitere Informationen zur Ausstellung

 

Nach diesem folgenreichen Eklat mauserte sich die Kapitale vom Hort des Konservativen rasch zum Zentrum der Avantgarden. Zugleich startete Munch in Berlin seine erstaunliche internationale Karriere. Wie das geschah, zeichnet die Ausstellung in der Berlinischen Galerie mit rund 80 Gemälden, Druckgrafiken und Fotografien nach – allerdings ohne sein berühmtestes Gemälde „Der Schrei“ von 1910.

 

Munch-Museum seit 1963

 

Denn die meisten Exponate stammen aus den Jahren vor 1908, als der Künstler nach Alkoholexzessen und Psychokrisen in sein Heimatland zurückkehrte. In Oslo hat man ihm 1963 ein eigenes Museum gewidmet, das 2021 in einen monumentalen Neubau umzog und nun einfach „MUNCH“ heißt; es ist der wichtigste Leihgeber der Schau.

Impressionen der Ausstellung


 

Weder erhaben noch wildromantisch

 

Um die Jahrhundertwende entzückte alles Nordische das deutsche Publikum, ob in der Literatur, im Theater oder eben in der Malerei. Kaiser Wilhelm II. persönlich ging jedes Jahr mit seiner Yacht auf Nordlandfahrt. Das erste Kreuzfahrtschiff überhaupt, die „Auguste Victoria“, schippert im Entrée der Ausstellung durch eine atemberaubend schroffe Fjordlandschaft auf einem riesigen Ölgemälde. Hoch aufragende Felsen, klare Luft, alles erhaben und großartig – so stellte man sich den wildromantischen Norden vor.

 

Was der in Deutschland zuvor unbekannte Munch mitbrachte, nachdem er 1892 vom Verein Berliner Künstler eingeladen worden war, sah völlig anders aus. Über die 55 Werke seiner Solo-Schau brach sofort erbitterter Streit aus; das Presseecho war enorm. Schließlich setzte der kaisertreue Vereinsvorsitzende und Akademiedirektor Anton von Werner durch, dass die Bilder abgehängt wurden.

 

Bilder zu Fries-Serien angeordnet

 

Eines von ihnen zeigt einen grüblerischen Mann unter dem Titel „Melancholie“. Still stützt er seinen Kopf in die Hand; das Motiv selbst schockiert nicht. Was die Betrachter irritierte, provozierte oder im Gegenteil von neuen Möglichkeiten träumen ließ, war die Machart. Munch ließ stellenweise die rohe Leinwand sichtbar, samt der flüchtig hingekritzelten Vorzeichnung. Seine simple Komposition wird von wabernden Farbflächen bestimmt. War dies überhaupt ein fertiges Gemälde?

 

Nun hängt es im zweiten Raum zwischen späteren Werken, die Munch immer wieder neu zu friesartigen Erzählungen gruppierte. Die Idee, seine Motive zu Serien anzuordnen, kam ihm erst in Berlin. Nebeneinander gehängt, würden sich die Einzelszenen gegenseitig erhellen – so hoffte er – und damit leichter verständlich werden. Es geht um die großen Gefühle und Themen: Liebe, Lebensangst, Einsamkeit, Entfremdung und Tod; häufig veranschaulicht durch Paarbildungen oder deren Scheitern.

 

Lebenszyklus ohne Dramaturgie

 

Auf damals übliche mythologische und literarische Bezüge verzichtet der Maler. Stattdessen adressiert er ohne Umschweife elementare Gefühlszustände und symbolhafte Verbrämung. Häufig kommt er auf bestimmte Figurentypen und Szenen zurück, wobei er die Formen aquarellartig sich verflüssigen lässt. Munch trägt Farbe dick auf, kratzt sie ab, beginnt von Neuem.

 

Doch sein später so genannter „Lebenszyklus“ findet keine eindeutige Dramaturgie. Eine Variante malte Munch für eine der Bühnen des Theater-Impresarios Max Reinhardt. Ein anderer Zyklus war für den Augenarzt und Sammler Max Linde bestimmt, der diesem aber nicht gefiel; auch diese Serie in bunten, satten Farben ist in der Ausstellung zu sehen.

 

Fanclub im „Zum Schwarzen Ferkel“

 

Unter aufgeschlossenen Berliner Künstlern wie dem Landschaftsmaler Walter Leistikow – der mit Max Liebermann und anderen 1898 die Berliner Secession gründen wird – findet Munch Unterstützer. Der Skandal um ihn befeuert die Kunst-Debatten in der Hauptstadt. Rückhalt gibt dem jungen Norweger ein Bohème-Zirkel im Weinlokal Unter den Linden Ecke Wilhelmstraße mit dem Spitznamen „Zum Schwarzen Ferkel“.

 

Munch hat seine neuen Freunde und Wortführer alle porträtiert: etwa die schillernde Autorin Dagny Juel, ebenfalls aus Norwegen, und ihren späteren Mann, den polnischen Autor Stanislaw Przybyszewski. Er widmete 1894 Munch die erste Monographie. Auch das Konterfei seines Landsmanns Henrik Ibsen, damals schon ein berühmter Dramatiker, hat Munch gemalt: Seinen Bildnissen räumt die Berlinische Galerie einen ganzen Saal ein.

 

„Ein ekelhafter Kerl, nicht wahr?“

 

Zwar hielt sich der Künstler selbst nicht für einen Porträtisten. Aber er beobachtete sehr genau die lässigen oder verspannten Posen seiner Zeitgenossen. Ein wenig sehen sie alle wie Psychopathen aus; mit starrem Blick, grünlichem Teint oder ähnlich exaltiertem Kolorit. „Ein ekelhafter Kerl, nicht wahr?“ meinte Walther Rathenau, als er sein Ganzkörper-Porträt sah, das er bei Munch in Auftrag gegeben hatte: „Das hat man davon, wenn man sich von einem großen Künstler malen lässt.“

 

Von oben herab beäugt der Industriekapitän und liberale spätere Außenminister der Weimarer Republik den Betrachter: ein arroganter Schnösel von der Halbglatze bis zur gewichsten Schuhspitze. Neben seiner Gestalt wabert auf der Leinwand eine merkwürdige, schemenhafte Farbform; gespensterhaft rosa, mit weiblichen Runden. Was sie bedeuten solle, ließ Munch unbestimmt.

 

Häufige Umzüge wegen kleiner Tiere

 

Er ist auf einem selbst angefertigten Foto in seinem Atelier zu sehen: Munch sitzt auf der Bettkante, mit ungekämmten Haaren und hochgekrempelten Ärmeln. Auf dem nackten Dielenboden stehen Leinwände herum. Jahrelang blieben seine Wohnverhältnisse prekär; unstet wechselte er von Pensionen zu billigen Hotelzimmern. 1895 suchte ihn der betuchte Kunstmäzen Harry Graf Kessler auf: „Munch haust vier Treppen hoch in einer Studentenbude. Das Wohnzimmer hat er ausgeräumt und benutzt es als Atelier.“ Bald musste der Maler hier ausziehen, „wegen gewisser kleiner Tiere“.

 

Um mehr Käufer zu finden, begann Munch mit Druckgrafik zu experimentieren. In diesem Medium legte der Künstler seelische Abgründe noch schärfer und zugespitzter bloß; nun meist ohne Farben in hartem Scharzweiß. Die rohe Holzmaserung des Druckstocks nutzte er gern als Gestaltungselement. Damit wurde er zum Vorreiter der expressionistischen Grafik etwa der Brücke-Künstler.

 

Bildwitze mit Spermien + Fötus

 

Besonders beeindruckt seine „Madonna“ von 1895: Ein bis zum Schoß nackter Frauentorso lehnt sich lasziv zurück, zwischen Ohnmacht und Dominanz schwankend. In der rahmenden Zierleiste des Holzschnitts schlängeln sich jugendstilhaft kleine Spermien, im Eck hockt gar ein Fötus. So viel zu Munchs Witz.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Edvard Munch: Der moderne Blick" in der Schirn Kunsthalle, Frankfurt am Main

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "1912 – Mission Moderne" – beeindruckende Rekonstruktion der Jahrhundertschau des Sonderbundes mit Werken von Edvard Munch im Wallraf-Richartz-Museum, Köln 

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "«Die Welt will Grunewald von mir» – Bilder von Walter Leistikow" – große Werkschau des Landschaftsmalers im Bröhan-Museum, Berlin

 

und hier einen Bericht über die Expressionisten-Ausstellung "Unzertrennlich – Rahmen und Bilder der Brücke-Künstler" – originelle Themen-Schau im Brücke-Museum, Berlin.

 

Leider zerfasert zum Schluss die Dramaturgie der Ausstellung. Im letzten Raum hängt beispielhaft für die verworrenen Schicksale vieler Munch-Werke das verschollene Großformat „Schneeschipper“, aber nur als Schwarz-Weiß-Reproduktion. Nachdem die Nazis es als „entartete Kunst“ aus der Berliner Nationalgalerie verbannt hatten, riss sich zwischenzeitlich Hermann Göring das Werk unter den Nagel. Am Ende des Zweiten Weltkriegs verbrannte die Leinwand im Flakbunker Friedrichshain.

 

Emotionen zählen mehr als Realität

 

Zwei Jahrzehnte zuvor hatte Munch selbst das Bild der Nationalgalerie geschenkt: aus Dank für eine riesige Retrospektive, die ihm das Haus 1927 mit 240 Werken ausgerichtet hatte. Damit war der Symbolist als moderner Klassiker etabliert. Genauer: als Wegbereiter einer Kunst, der Emotionen wichtiger sind als getreuliche Nachbildung der äußeren Wirklichkeit – wie beim Expressionismus, der ab den 1910er Jahren als Avantgarde-Bewegung Beachtung fand.

 

Da hatte Munch Berlin bereits verlassen. Ein Foto zeigt ihn 1908 gezeichnet von Alkoholexzessen, Halluzinationen und Verfolgungswahn. Der psychisch angeschlagene Künstler begab sich in eine Kopenhagener Privatklinik. Später wird er in Norwegen seine labile Psyche besser in den Griff bekommen. Die ekstatische Wucht seiner Farben mindert das nicht.

 

Munch-Landschaften in Potsdam

 

Noch mehr Munch ist ab November 2023 im nahen Potsdam zu sehen. Das dortige Museum Barberini widmet seine Ausstellung der Landschaftsmalerei von Munch. Mit der Natur als Inspirationsquelle setzte er sich vor allem nach seinen Berliner Jahren auseinander; beide Präsentationen ergänzen also einander zeitlich.