Wie stellt man eine ganze Epoche aus? Indem man alles, was irgendwie dazu gehört, zusammenträgt und aufeinander häuft? „Alles auf einmal“, verspricht die Schau über die Postmoderne in der Bundeskunsthalle – und hält Wort. Damit muss sie unter der Bedingung begrenzter Aufnahmefähigkeit der Besucher zwangsläufig scheitern, doch auf beachtlichem Niveau.
Info
Alles auf einmal:
Die Postmoderne 1967–1992
29.09.2023 - 28.01.2024
täglich 10 bis 19 Uhr,
mittwochs bis 21 Uhr
in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland,
Helmut-Kohl-Allee 4, Bonn
Katalog 39 €
Weitere Informationen zur Ausstellung
Die lange Dauer theoretischer Debatten
Nun lautet eine Binsenweisheit der Kulturhistorie, dass jede Ära ihre Vor- und Ausläufer hat. Das ist bei der Postmoderne nicht anders: Ihre Vorgeschichte reicht weit zurück. Ende der 1960er/ Anfang der 1970er Jahre wurden wegweisende Schriften in Philosophie, Medien- und Architekturtheorie veröffentlicht, die ihre volle Wirkung erst einige Jahre später entfalteten. Rezeption und Debatten in den Geisteswissenschaften brauchen eben ihre Zeit.
Feature zur Ausstellung; © Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland
Plötzlich diese Unübersichtlichkeit!
Nach 1980 gehörten der Poststrukturalismus von Michel Foucault, Jacques Derrida, Jean-François Lyotard, Gilles Deleuze und Jean Baudrillard oder die Kolonialismus-Kritik von Edward Said jedoch zum geistigen Rüstzeug jedes aufgeweckten Studenten. Obwohl die wenigsten ihre Werke gelesen oder gar verstanden hatten; den meisten reichten ein paar knackige Zitate. An dieses heute kaum noch vorstellbare Vertrauen in kanonische Schriften erinnert die Ausstellung auf rührende Weise. In ihr verstreut stehen mannshohe, aufgeklappte Buchattrappen; geht man hinein, hört man ein paar Sätze des Autors vom Band. Deren Bedeutung erfasst man dadurch natürlich nicht.
Ähnlich verhält es sich mit vielen anderen Exponaten. Der britische Architekt und Designer Nigel Coates, ein ausgewiesener Postmodernist, hat den Rundgang in Anlehnung an eine Stadtlandschaft entworfen: verschachtelt, verschlungen und vollgestopft mit disparaten Objekten aller Art. Reizüberflutung aus Prinzip, wie heutzutage bei Tiktok. Damit erzeugt die Ausstellung eine genuin postmoderne Erfahrung: plötzlich diese Unübersichtlichkeit! Nach den monotonen Formaten der Nachkriegsgesellschaften prasselten jetzt auf den Einzelnen jede Menge aufregende Stimuli ein: Alles so schön bunt hier.
Die Gegenwart der Vergangenheit
Die kreative Explosion machte sich am stärksten in Architektur und Design bemerkbar. Robert Venturi et al. hatten 1972 in „Learning from Las Vegas“ die Vergnügungsmetropole zum Vorbild erklärt. 1977 lieferte Charles Jencks mit „The Language of Postmodern Architecture“ den Katechismus zur Bewegung; drei Jahre später wurde sie auf der 1. Architektur-Biennale in Venedig endgültig breitenwirksam.
Ihr Motto „La presenza del passato“ („Die Gegenwart der Vergangenheit“) war Programm: Anstatt öde Standards der industriellen Moderne zu wiederholen, sollten Architekten aus dem historischen Repertoire schöpfen, um Stile und Elemente frei zu kombinieren. So wie Charles Moore, der 1978 mitten in New Orleans eine „Piazza d’Italia“ anlegte – mit allem, was Italiens Bautraditionen seit der Römerzeit geprägt hat.
Hindernisparcours aus Designerstücken
Mit solchem Recycling unerhört Neues zu schaffen gelang postmodernem Design. Vor allem italienische Designer wie die „Memphis“-Gruppe um Ettore Sottsass oder das „Studio Alchimia“ von Alessandro Guerriero und Alessandro Mendini mixten wild Versatzstücke aller Zeitalter. Mendini überzog 1978 seinen Barock-Sessel „Proust“ mit postimpressionistischen Farbtupfern; Masanori Umeda von „Memphis Milano“ gestaltete 1981 ein Bett als Boxring.
Solche bizarren Hingucker finden sich zuhauf in der Ausstellung, was sie zum unübersichtlichen Hindernisparcours macht; das dürfte daran liegen, dass Bundeskunsthallen-Intendantin und Ko-Kuratorin Eva Kraus ausgebildete Designerin ist. Auch an Architektur-Modellen und -Entwürfen wird nicht gespart. Dagegen kommen postmoderne Ansätze und Verfahren in Literatur und Film kaum vor, weil sie sich schlecht veranschaulichen lassen – seltsamerweise fehlt auch bildende Kunst weitgehend.
Trommelfeuer steiler Thesen
Anders die Popkultur: Sie wird mit einer Nachahmung der legendären New Yorker Disco „Palladium“, die der japanische Star-Architekt Arata Isozaki 1985 gestaltet hatte, geradezu zelebriert. Dabei begnügt sich die Schau nicht mit Oberflächenreizen, sondern will aufzeigen, was die Selbststilisierung in Subkulturen und Nachtleben eigentlich über den damaligen Zeitgeist aussagte. Getreu postmodernen Vorläufern: 80er-Jahre-Zeitschriften wie „The Face“ oder „SPEX“ pflegten neue Platten und Modeaccessoires gern auf ihre semiotischen Codes abzuklopfen.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Plastic World" über Kunst aus Kunststoffen mit Werken des postmodernen Architekten Hans Hollein in der Schirn Kunsthalle, Frankfurt am Main
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Unendlicher Spaß" – Gegenwartskunst kommentiert den gleichnamigen postmodernen Riesenroman von David Foster Wallace in der Schirn, Frankfurt
und hier einen Beitrag über den Film "Weißes Rauschen" – detailverliebte Verfilmung des postmodernen Romans von Don DeLillo durch Noah Baumbach mit Greta Gerwig + Adam Driver
und hier einen Beitrag über den Film "Inherent Vice – Natürliche Mängel" – Adaption des postmodernen Späthippie-Romans von Thomas Pynchon durch Paul Thomas Anderson
und hier einen Bericht über die Ausstellung "Bodenlos – Vilém Flusser und die Künste" – Überblick über das Lebenswerk des postmodernen Medientheoretikers in Karlsruhe + Berlin.
Macht, was ihr wollt – wenn ihr könnt!
In den 1970er Jahren schwand der Glaube an alleinseligmachende Welterklärungen – erst unter Akademikern, dann bei den Massen. Von ihrem Post-1968-Kater sollte sich die revolutionär oder progressiv gestimmte Linke nie wieder erholen. Zugleich führte politische Liberalisierung zu ökonomischer Privatisierung: Deregulierte Finanzmärkte öffneten national wie international die Schere zwischen Arm und Reich. Anstelle von paternalistischer Fürsorge eröffneten Staat und Gesellschaft mehr Freiräume für individuelle Selbstverwirklichung: Macht doch, was ihr wollt – wenn ihr es euch leisten könnt!
Digitalisierung und Globalisierung verstärkten ab den 1990er Jahren diesen Trend zu weltanschaulichem Pluralismus und sozialer Zersplitterung – im Grunde bis heute. Auch der gegenwärtige Boom populistischer Bewegungen lässt sich in diesem Rahmen erklären: als kollektive Regression der Verlierer diverser Modernisierungsschübe, die sich die Sicherheit schlichter Weltbilder und überschaubarer Verhältnisse zurückwünschen, welche seit einem halben Jahrhundert unaufhaltsam erodieren.
Postmodernes Paradigma gilt weiter
Die Frage, ob die Postmoderne andauert, lässt sich daher entschieden bejahen. Zwar herrscht in der Architektur mittlerweile fader Investoren-Minimalismus vor, in der Literatur ambitionsloser Plauderton; Popmusik dreht sich in der Endlosschleife des Eklektizismus – und Philosophie bietet längst keine überraschenden Erkenntnisse mehr. Doch das Paradigma für die heutige kulturelle Stagnation wurde in dem Zeitraum abgesteckt, den diese Ausstellung betrachtet. Dass sie dabei das Meiste nur flüchtig antippen kann, liegt in der Natur der Sache.