Tübingen + Wien

Innenwelten: Sigmund Freud und die Kunst

Oskar Kokoschka: Die Erwachenden (Detail, aus: Die träumenden Knaben), 1906–08, Farblithografie, 24 x 22,9 cm. © VG Bild-Kunst, Bonn 2023. Fotoquelle: Kunsthalle Tübingen
Im Freudianischen Zeitalter: Die Entdeckung des Unbewussten und die Psychoanalyse haben auch die Kunst geprägt – so umfassend, dass sich direkte Einflüsse kaum noch dingfest machen lassen. Das zeigt eine ambitionierte Ausstellung von Kunsthalle und Sigmund Freud Museum, die aber ins Beliebige abdriftet.

„Wir sind heute so durch und durch freudianisiert, dass wir uns vielleicht gar nicht mehr dessen bewusst sind“, stellte die französisch-israelische Soziologin Eva Illouz 2009 fest. Wer wollte der großen Kennerin des Seelenlebens im Turbokapitalismus widersprechen? Freudsche Begriffe wie Unbewusstes, Libido oder Ödipuskomplex zählen längst zur Alltagssprache; wie sie in der populären Auffassung – häufig halb oder falsch – verstanden werden, lohnt eigens eine ausführliche Analyse.

 

Info

 

Innenwelten: Sigmund Freud und die Kunst

 

28.10.2023 - 03.03.2024

täglich außer montags 11 bis 18 Uhr,

donnerstags bis 19 Uhr

in der Kunsthalle, Philosophenweg 76, Tübingen

 

Katalog 22 € 

 

Weitere Informationen zur Ausstellung

 

26.04.2024 - 04.11.2024

täglich außer dienstags 10 bis 18 Uhr,

im Sigmund Freud Museum, Berggasse 19, Wien

 

Weitere Informationen zur Ausstellung

 

Da liegt der Gedanke nahe, die Auswirkungen von Freuds Theorien auf die Kunst in den Blick zu nehmen; immerhin hat schon der Begründer der Psychoanalyse selbst sie als Medium betrachtet, in dem unbewusste Regungen zum Ausdruck kämen. Dafür hat die Kunsthalle Tübingen mit dem Sigmund Freund Museum in Wien den denkbar besten Kooperationspartner gewonnen: Wer könnte mehr zum Thema beisteuern als die Gralshüter von Freuds einstiger Praxis in der Berggasse 19?

 

Zu viel freie Assoziation

 

Allerdings treiben die beiden Häuser es mit der Orientierung an Freud etwas zu weit: indem sie wie beim Psychoanalyse-Prinzip der „freien Assoziation“ allen möglichen Einfällen nachgehen und sich in Nebenaspekten verzetteln. Zudem ignorieren sie Freud in einem Punkt, der sich fatal auswirkt. Sie wollen zu viel zu schnell: nämlich eine sowohl chronologische als auch thematische Ausstellung, die Kernbegriffe seiner Theorie abhandelt. Beides zugleich kann die Zusammenstellung der Werke von 50 Künstlern nicht leisten; mit Bedacht hat Freud stets davor gewarnt, den Analyse-Ablauf künstlich beschleunigen zu wollen. Dann droht Beliebigkeit, wie hier zu besichtigen ist.

Feature zur Ausstellung. © Klarner Medien


 

Porträts ist Freud-Einfluss nicht anzusehen

 

Schon der Einstieg gerät diffus: mit Künstler-Selbstporträts aus dem deutschsprachigen Raum um 1900 – als sei die damalige Psychologisierung und Sexualisierung kultureller Debatten allein Freud zu verdanken. Vom österreichischen Expressionisten Richard Gerstl, der mit 25 Jahren Selbstmord beging, weiß man, dass er sich Freuds „Traumdeutung“ gekauft hat – aber seinen Selbstbildnissen in Tusche und Öl ist das kaum anzusehen. Käthe Kollwitz hielt in ihren Tagebüchern fest, dass sie Freuds Schriften las und mit Freunden diskutierte – doch ihr veristisches Doppelporträt mit Sohn Hans von 1914/6 verrät nicht, dass der introvertierte Junge 1930 eine Psychoanalyse machen sollte.

 

Ähnlich konstruiert erscheint der Zusammenhang von Lithografien, mit denen Oskar Kokoschka 1908 seinen Gedichtband „Die träumenden Knaben“ illustrierte, mit Freuds Lehre. Sie war zu diesem Zeitpunkt allenfalls in Fachkreisen rezipiert worden – bis 1906 hatten sich von der „Traumdeutung“ nur 351 Exemplare verkauft. Für solche Fehlschlüsse hat Freud den passenden Begriff geprägt: Projektion.

 

Surrealisten als „absolute Narren“

 

Dass die zweite Station überzeugt, verwundert nicht: Die Surrealisten um André Breton haben stets betont, wie wichtig Sigmund Freuds Ideen für ihre Kunstpraxis waren. Obwohl sie die Intention umdrehten: Während die Psychoanalyse Neurosen und andere Störungen lindern und heilen sollte, wollten die Surrealisten unbewusste Empfindungen wie Wünsche und Ängste entfalten und darstellen – für eine neue Über-Realität. Dazu nutzten sie Träume und Kontrollverlust: Schöpferische Techniken wie écriture automatique, Frottage und Grattage kamen der „freien Assoziation“ in einer Gesprächstherapie sehr nahe.

 

Dafür bietet die Schau einige prägnante Beispiele auf; allen voran die Federzeichnung „La Métamorphose de Narcisse“ von Salvador Dalí, der seine Freud-Lektüre als Offenbarung erlebt hatte. Eine Gemäldefassung des Motivs durfte er persönlich 1938 dem greisen Autor im Londoner Exil präsentieren – der war durchaus angetan: „Bis dahin war ich geneigt, die Surrealisten, die mich scheinbar zum Schutzpatron gewählt haben, für absolute Narren zu halten. Der junge Spanier mit seinen treuherzigen fanatischen Augen und seiner unleugbar technischen Meisterschaft hat mir eine andere Einschätzung nahe gelegt.“

 

Freudianischer Wiener Aktionismus

 

Indes nehmen die Kuratorinnen die Psychoanalyse-Begeisterung der Surrealisten zum Anlass, jedwede Spielart dieser Strömung auszubreiten. Aus praktischen Gründen: Sie bildet einen Schwerpunkt der Sammlung des Wiener Galeristen Helmut Klewan, bei der sie sich ausgiebig bedienen durften. Womit sie ihr Konzept überdehnen: Dass die „pittura metafisica“ des Surrealismus-Vorläufers Giorgio de Chirico von Freud inspiriert sein soll, lässt sich wohl am ehesten dadurch erklären, dass ein Gemälde von 1960, in dem er sein eigenes Frühwerk kopierte, auch zur Sammlung Klewan gehört.

 

Eine Etage höher folgt ein kühner Sprung in die Nachkriegszeit. Plausibel erscheint, dass der „Wiener Aktionismus“ von Hermann Nitsch, Günter Brus oder – am Rande – Arnulf Rainer ohne Freud nicht denkbar wäre: All die entfesselten Triebenergien, verspritzten Körperflüssigkeiten, Selbst-Übermalungen und -Verstümmelungen wären ohne Kenntnis von Eros und Thanatos, von Lustprinzip und Todestrieb wenig sinnvoll. Dass die feministische Kunst der 1970er Jahre sich explizit Freud vorgeknöpft haben soll, leuchtet weniger ein: Ihre Kritik zielte auf das Patriarchat als Ganzes – dafür waren Theorie-Vorurteile, etwa das über den Penisneid, nur phallozentrische Symptome.

 

Beuys-Kuh verarscht Freud

 

Das veranschaulicht das größte Exponat der Ausstellung. In „Uterusland“ (2017) wird ein lebensgroßes Plastikpferd-Fragment scheinbar von Milch-Strängen gezogen, die aus einem riesigen anatomischen Brustmodell ’spritzen‘. Nebenan zeigt ein Videofilm, wie die Künstlerin Raphaela Vogel in einer Schwimmbad-Wasserrutsche metaphorisch ’neu geboren‘ wird. Man sieht: Freudsche Denkfiguren sind mittlerweile frei flottierende Versatzstücke, die beliebig besetzt werden können – Vogel will nach eigenen Worten „das schöpferische Kunst-Machen und den Sog des Kunstbetriebs thematisieren“.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Sigmund Freud – Freud über Freud" – hervorragendes Doku-Porträt aus Briefzitaten + Selbstzeugnissen von David Teboul

 

und hier eine Besprechung des Films "Dalíland" – originelles Biopic über den surrealistischen Künstler Salvador Dalí von Mary Harron mit Ben Kingsley

 

und hier einen Beitrag über den Film "Der Trafikant" - solide Romanverfilmung von Nikolaus Leytner mit Bruno Ganz als Sigmund Freud

 

und hier eine Besprechung des Films "Eine dunkle Begierde" über den Konflikt zwischen Sigmund Freud und C.G. Jung von David Cronenberg.

 

Willkommen im postmodernen anything goes! Da dient Freud als Schießbudenfigur für die grenzdebile „Fluxus-Partitur“ von Joseph Beuys: „Was ist mit der Kuh**?? (Sigmund Freud ließ sich von der Kuh verarschen. Die Kuh verarschte Sigmund Freund)“ (1963). Oder als Zitatlieferant: Seine Original-Worte auf einer Gedenktafel zum Heureka-Moment der ersten Traumdeutung hat Heimo Zobernig 1997 auf einen schön schaurigen Wandbehang gedruckt – ein Fetisch für Glitzer-Liebhaber.

 

Total durchfreudianisiert

 

Oder Freud-Topoi werden in Kalauer-Kunst übersetzt: Bei „Bewußt/ Unbewußt“ (1994) lässt Rachel Lachowitz kopflose Plastik-Zwerge gegen die Wand rennen. Julie Hayward baute 2003 einen „Sublimator“: In einem Plexiglas-Kasten wird rotes Gewölle zu einem fingerdicken Strang gedreht – der Eindruck einer ‚Verwurstung‘ ist beabsichtigt. Franz West, immer für einen derben Scherz zu haben, stellte 1989 eine „Liège“ aus rostigem Metall auf. Sie ist der berühmten Couch in Freuds Praxis nachempfunden – Langzeit-Analyse als Fakir-Folter.

 

So schlingert die Schau durch die zeitgenössische Kunstproduktion. Das bunte Allerlei aus Weltstars und Nobodys, Erhabenem und Lächerlichem, Mega-Installationen und Miniaturen macht deutlich: Freud und seine Terminologie sind frei verfügbar – jeder darf damit veranstalten oder verhunzen, was er will. Womit dieses form- und profillose Ende des Parcours das Eingangszitat von Eva Illouz beglaubigt: Wir sind heute durch und durch freudianisiert.