Salvador Dalí (1904-1989) ist ein einzigartiges Phänomen. Seinen Namen kennen alle, doch sein Werk ist aus dem Kunstbetrieb fast verschwunden. Vom halben Dutzend weltberühmter Großkünstler des 20. Jahrhunderts – sagen wir: Picasso, Miró, Magritte, Henry Moore, Andy Warhol und eben Dalí – wird er am wenigsten beachtet, ausgestellt und gehandelt. Als sei sein unbestreitbar überragender Beitrag zum Surrealismus, der seit einigen Jahren wieder neu entdeckt wird, unerheblich geworden.
Info
Dalíland
Regie: Mary Harron,
96 Min., Frankreich/ Großbritannien/ USA 2022;
mit: Ben Kingsley, Barbara Sukowa, Andreja Pejic, Christopher Briney
Weitere Informationen zum Film
Lebendige surrealistische Skulptur
Eine denkbare Erklärung wäre, dass Dalí einen Künstlertyp repräsentierte, der mit ihm untergegangen ist: den exzentrischen und größenwahnsinnigen Alleskönner, der von allem nie genug bekam und jeden Auftritt zu einem bizarren Spektakel stilisierte – quasi als lebendige surrealistische Skulptur.
Offizieller Filmtrailer
Spielfilmdebüt über Warhol-Attentäterin
Seine psychedelisch überdrehte Version des romantischen Künstlergenies hat sich erledigt. Heutige Großkünstler wie Jeff Koons, Damien Hurst oder Gerhard Richter agieren – passend zur durchökonomisierten Gegenwart – als mittelständische Unternehmer. Sie sind auf Reichweiten- und Umsatzmaximierung bedacht; das Rampenlicht suchen sie nicht.
Es wieder auf Dalí zu richten, erscheint daher als beeindruckend antizyklische Idee der kanadischen Regisseurin Mary Harron; ihr Filmemacher-Mann John C. Walsh schrieb das Drehbuch. Harron, die als Punk-Musikjournalistin anfing, kennt sich mit abseitigen Charakteren aus: Ihr Spielfilmdebüt „I Shot Andy Warhol“ (1996) war Valerie Solanas gewidmet, die 1968 auf Andy Warhol ein Attentat verübt hatte.
Unfinanzierbar barocker Lebensstil
Die Verfilmung von Bret Easton Ellis‘ umstrittenem Roman „American Psycho“ (2000) war Harrons größter Erfolg. Spätere Filme, etwa über die „Königin des Pin-Ups“ Bettie Page (2005) oder das Gefolge des mörderischen Sektenführers Charles Manson („Charlie Says“, 2018), wurden weniger beachtet.
Nun porträtiert sie also Dalí. Doch nicht den produktiven Nonkonformisten, der in den 1930/40er Jahren erst in, dann außerhalb der Bewegung unter André Bretons Fuchtel mehr als jeder andere surrealistische Einfälle und Sujets popularisierte; bereits 1936 zierte er als „Mister Surrealism“ die Titelseite des „Time Magazine“. Sondern den gealterten has-been Mitte der 1970er Jahre, der seinen verschwenderisch barocken Lebensstil kaum noch finanzieren kann – würde ihn nicht seine Frau Gala zur Fließbandarbeit antreiben.
Strenge Gouvernante für ungezogenes Kind
Die berühmt-berüchtigte Gattin von Dalí verkörpert Barbara Sukowa famos: als elegante Dame von Welt im Umgang mit Sammlern, Galeristen und anderen Geldbringern. Und als gestrenge Gouvernante, die ihren Mann wie ein ungezogenes Kind zur Schnecke macht, wenn er nicht liefert. Die femme fatale der Surrealisten – Ex-Frau von Paul Éluard, Ex-Geliebte von Max Ernst – hat aber auch eine weiche Seite: Da ihr im achten Lebensjahrzehnt die Liebhaber nicht mehr zufliegen, protegiert sie einen Musical-Sänger, der bei „Jesus Christ Superstar“ die Hauptrolle mimt. Als sugar mommy für den Heiland – Gala war ausgesprochen gläubig.
Ähnlich jung ist James (Christopher Briney): Der Studienabbrecher jobbt in einer Galerie und wird von Dalí als Assistent engagiert. Aus seiner Perspektive erlebt man das Geschehen. Ein simpler, aber produktiver Kniff: Die erfundene Staffagefigur weitet den Blick über die Dalí-Gala-Beziehungskiste hinaus und führt durch ein lustvoll ausgemaltes Sittenbild der Glam-Rock-Ära. Mit Parties voller Paradiesvögel in Hotel-Suiten, kiloweise Hummer, Kaviar und Koks sowie genderfluidem casual sex zu dritt im Nebenzimmer. Dabei schaut der Gastgeber als „Großer Masturbator“ zu; damals hatte er die transsexuelle Amanda Lear (Andreja Pejić) zu seiner neuen Muse erkoren.
Extremnarziss als gottgleiches Universalwunder
Keine Orgie ohne Kater: Ansonsten verzichtet Regisseurin Harron auf effekthascherische Dramaturgie und zeigt viel vom Arbeitsalltag in „Dalíland“. Zahllose durchgepinselte Tage in Portlligat, seiner isoliert an der Costa Brava gelegenen Künstler-Residenz – da muss der Hausherr für Höhepunkte selbst sorgen. Etwa durch Launen wie seine hysterische Reaktion auf einen blutigen Kratzer, den der Hypochonder schreiend zum sicheren Vergiftungstod aufplustert.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Surrealismus und Magie – Verzauberte Moderne" – opulent bestückte Themenschau mit Werken von Salvador Dalí im Museum Barberini, Potsdam
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Traum-Bilder – Die Wormland-Schenkung" mit Werken des Surrealismus, u.a. von Salvador Dalí, in der Pinakothek der Moderne, München
und hier einen Bericht über den Film "Van Gogh - An der Schwelle zur Ewigkeit" – hervorragendes Künstler-Porträt von Julian Schnabel mit Willem Dafoe
und hier einen Beitrag über den Film "Hannah Arendt" – faszinierendes Biopic mit Barbara Sukowa als Philosophin von Margarethe von Trotta.
Signierte Blanko-Bögen als Sündenfall
Das bannt Harron kurz vor Schluss in ein unvergessliches Bild: Dalí steht nachts allein auf einer Meeresklippe und dirigiert wild fuchtelnd den Wind. Sein Tagesgeschäft war allerdings prosaischer – was der zweite Grund sein dürfte, warum die Gegenwart ihn ignoriert. Redlicherweise geht der Film ausführlich darauf ein. Schon zur Halbzeit überredet ein Galerist eine unbedarfte Rentnerin, ihr gesamtes Vermögen für drei Dalí-Lithografien auszugeben, weil bald ihr Wert enorm steigen werde.
Gegen Ende folgt der Skandal: Dalís Entourage reicht ihm Blanko-Bögen, die er im Akkord signiert, bevor sie mit beliebigen Grafiken bedruckt werden. Womit er sein Werk inflationiert, was nach seinem Tod endlose Debatten über Fälschungen auslösen wird – und fallende Preise. So begräbt er das romantische Künstlergenie in sich; aus Lebensgier wird reine Geldgier. Als trauriger Clown hat Dalí den Boden für den heutigen überhitzten Kunstmarkt bereitet, mit seinen NFT-Auktionen und ähnlichen Absurditäten. Ein selten realistisches Künstler-Biopic.