
Es beginnt verheißungsvoll: Ein Auswandererschiff aus Europa fährt 1947 in den Hafen von New York ein. Der ungarische Architekt und KZ-Überlebende László Tóth (Adrien Brody) und ein Mitpassagier rasten vor Freude aus, dass sie die Überfahrt endlich geschafft haben; selbst die Freiheitsstatue steht Kopf. Zur Feier ihrer Ankunft in der Neuen Welt gönnen sich beide – als erstes einen blow job bei Straßennutten. Ein kleiner Affront für das Publikum, dem weitere folgen werden.
Info
Der Brutalist
Regie: Brady Corbet,
215 Min., USA/ Großbritannien/ Kanada 2024;
mit: Adrien Brody, Felicity Jones, Guy Pearce
Weitere Informationen zum Film
Kulturzentrums-Auftrag für Bauhaus-Schüler
Doch Harrison Lee Van Buren (Guy Pearce) ist davon nicht angetan: Er wirft Attilá und Lászlo hinaus. Wenig später muss jener auch bei seinem Cousin ausziehen. Als er mit Gordon auf einer Kohlehalde schuftet, taucht plötzlich Van Buren wieder auf: Seine Bibliothek wurde in einer Zeitschrift als „Meisterwerk minimalistischen Designs“ gefeiert. Nun entlohnt er László fürstlich und engagiert ihn abermals, denn der Magnat hat große Pläne: Er will zum Andenken an seine verstorbene Mutter auf einem Hügel ein riesiges Kulturzentrum errichten. Entwerfen soll es der Bauhaus-Schüler, dessen Film-Biographie vage an die Vita des ungarisch-amerikanischen Architekten Marcel Breuer (1902-1981) angelehnt ist.
Offizieller Filmtrailer
Look der 1950er + gegenwärtige Bildsprache
Bis dahin erscheint die fiktive Einwanderer-Geschichte durchaus plausibel. Vor allem wegen der exzellenten Umsetzung: Der Film ist visuell schlicht betörend. Kameramann Laurie „Lol“ Crawley hat fast vollständig in VistaVision gedreht; bei diesem in den 1950er Jahren entwickelten Verfahren wird der Filmstreifen horizontal belichtet, aber vertikal abgespielt, was besonders brillante Bilder ergibt. Sie sehen dank sorgfältiger Ausstattung in dezent entsättigten Farben so authentisch aus, als seien sie tatsächlich ein halbes Jahrhundert alt.
Bei zeitgenössischer Bildsprache: Weite Strecken wurden mit unruhiger Handkamera gedreht. Zudem streut Regisseur Corbet oft kurze Schnittbilder mit prägnanten Details ein, wie sie einem zerstreuten Blick ins Auge stechen würden. Dieser gegenwärtige Duktus kombiniert mit nostalgischer Optik ist von hinreißendem Reiz. Zumal ihn exquisite Filmmusik verstärkt: Bebop-Jazz und atonale E-Musik mit Bläsern und Schlagzeug entsprechen perfekt dem damaligen Zeitgeist.
Zwei kongeniale Hauptdarsteller
Nicht nur die Inszenierung, auch die Darsteller sind superb. Seitdem er 2003 für seine Titelrolle in „Der Pianist“ von Roman Polanski mit dem Oscar für den besten Schauspieler ausgezeichnet wurde, hat Adrien Brody wohl nicht mehr so fulminant aufgetrumpft. Allein wie er mit kurzem Hin- und Wegblicken, leichten Kopfwendungen und Mundwinkelzucken seinem Gesprächspartner alles sagt, während er stumm bleibt, ist unübertrefflich. Kein Wunder, dass er dafür den Golden Globe Award erhielt; ein zweiter Oscar könnte folgen.
Gegensätzlich verhält sich Guy Pearce als großspuriger Firmenpatriarch Van Buren: Er redet unentwegt. Als Platzhirsch seiner Kleinstadt kultiviert er nicht nur den Lebensstil des Ostküsten-Geldadels, sondern behandelt auch László souverän gönnerhaft: anfangs mit Neugier wie eine Kuriosität, dann wie einen seiner Angestellten, schließlich wie einen lästigen Bittsteller. Wobei der Architekt jahrelang auf seinem Anwesen im heruntergekommenen ehemaligen Gästehaus hausen muss.
Subtile Regie wird holzschnittartig
Auch dieses Verhältnis zwischen Möchtegern-Mäzen und Protégé, der sich zähneknirschend unterordnet, wirkt realistisch, zumal Pearce und Brody es wunderbar nuancenreich durchspielen. In der ersten Filmhälfte – die epische Länge von dreieinhalb Stunden Laufzeit wird von einer Pause unterbrochen. Danach trifft Lászlós Frau Erszébeth (Felicity Jones) nach langer Wartefrist 1953 in den USA ein: da sie wegen der Mangelernährung im KZ unter Osteoporose leidet, im Rollstuhl. Den schiebt ihre Nichte Zsófia (Raffey Cassidy); das verstörte oder auch nur verstockte Mädchen spricht jahrelang kein Wort.
Im Film macht sie erstmals den Mund auf, um anzukündigen, dass sie mit ihrem Verlobten nach Israel auswandern wird – beim Abendessen mit Onkel und Tante. So verdutzt wie sie reagiert auch der Zuschauer, denn nun häufen sich plakative Hinweise darauf, dass Jüdisches in den USA überall diskriminiert wird, wenn auch verdeckt. Zugleich wird die zuvor subtile Regie plötzlich holzschnittartig. Aus ungenannten Gründen stecken die Bauarbeiten am Kulturzentrum jahrelang fest; László reibt sich im Hickhack mit der Van-Buren-Sippe auf und mutiert zum Haustyrannen.
Auftraggeber vergewaltigt Junkie
Das könnte an seiner Heroinsucht liegen, die ihm Brady Corbet als Drehbuchautor andichtet: Mehr als eine Dekade lang setzt sich László täglich einen Schuss, was ihm seltsamerweise körperlich nicht zu schaden scheint. Noch bizarrer endet die Beziehung zu seinem Auftraggeber. Der fällt bei einer gemeinsamen Reise nach Italien, um Carrara-Marmor auszusuchen, im Suff über ihn her und vergewaltigt ihn im Wortsinne. Drastischer und abgeschmackter lässt sich gefühlte Unterdrückung von US-Juden durch die herrschende WASP-Elite kaum darstellen.
Solche Holzhammer-Melodramatik mit hanebüchenen Wendungen rundet der Epilog passend ab: Er spielt in Venedig bei der ersten Architektur-Biennale 1980. Sie stand unter dem Motto „La Presenza del Passato“ („Die Gegenwart der Vergangenheit“) und verhalf der Postmoderne zum Durchbruch. Corbet kapert dieses Motto als Titel für eine angebliche Retrospektive von László Tóth: Der habe später eine fabelhafte Laufbahn hingelegt und die Welt mit wegweisenden brutalistischen Betonbauten gepflastert. Wobei der Geehrte zwar erst 69 Jahre alt wäre, aber als hinfälliger Greis im Rollstuhl hockt – den erneut Raffey Cassidy schiebt, diesmal als Enkelin.
Kulturzentrum wie KZ-Lager konstruiert
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Vox Lux" – ambitioniertes Popstar-Drama von Brady Corbet mit Natalie Portman + Jude Law
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Marcel Breuer: Design und Architektur" – umfassende Werkschau des ungarisch-amerikanischen Architekten im Bauhaus Dessau
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Radikal Modern: Planen und Bauen im Berlin der 1960er-Jahre" – umfassende Überblicks-Schau in der Berlinischen Galerie, Berlin.
Die Schrecken von Zweiter Weltkrieg und Holocaust sind schon seit vielen Jahren unerschöpfliche Stofflieferanten für die Künste; sie garantieren existentielle Wucht. Nachdem die Täter- und Opfer-Generation gestorben und ihre Schicksale auserzählt sind, kommen nun die Davongekommenen und deren Traumata an die Reihe. Die Nachfrage ist ungebrochen; man sollte sie jedoch besser mit realen Fallgeschichten befriedigen anstatt mit Potpourris aus freihändig zusammengewürfelten Versatzstücken samt Hochkultur-Firnis.
Besser der Realität zuwenden
Regisseur Brady Corbet war bis 2014 hauptberuflich Schauspieler. In seinen bislang drei Regiearbeiten hat er stets fiktive Biographien entworfen: 2015 in „The Childhood of a Leader“ die eines autoritären Führers. In „Vox Lux“ (2018) war es der Werdegang eines Mädchens, das als Überlebende eines Amoklaufs zum Popstar wird; trotz großen Aufwands floppte der Film völlig. Das wird „Der Brutalist“ kaum passieren, dennoch: Bei seinem nächsten Projekt sollte sich Corbet zur Abwechslung mal mit der Wirklichkeit beschäftigen.