Daniel Kötter

Landshaft

Autofahrt durch das armenische Grenzland östlich des Sevan-Sees; Fotoquelle: Arsenal Berlin
(Kinostart: 30.5.) Spröde Idylle mit unsichtbarer Todesgefahr: Filmemacher Daniel Kötter dreht am armenischen Sewansee – auf drei Seiten von aserbaidschanischen Gipfeln umzingelt. Das ist der majestätischen Bergwelt nicht anzusehen, nur von Einheimischen zu hören; in einem brillant subtilen Doku-Essayfilm.

Das vermeintlich fehlende „c“ im Titelwort ist kein Druckfehler. Sondern die Schreibweise der deutschen „Landschaft“ als Lehnwort im Armenischen; es wird darin im gehobenen Sinn benutzt, etwa für das gleichnamige Malerei-Genre. Ein Beispiel für zahlreiche deutsche Wörter, die im Lauf der Zeit von osteuropäischen Sprachen übernommen worden sind, was hierzulande kaum geläufig ist. Wie auch das Sujet dieses Films: Er führt auf unbekanntes Terrain.

 

Seine erste Einstellung ist zugleich die einzige unter Wasser: Die Kamera taucht in eine trübe Brühe ein, die in einem Kahn schwappt, der über den Sewansee fährt. Sie wird von einem Mann per Hand herausgeschöpft. Augenscheinlich hat das Boot ein Leck, und er muss eindringendes Wasser ständig entfernen, damit es nicht sinkt. Vermutlich ist er Fischer, und ohne diesen reparaturbedürftigen Nachen verlöre er seine Lebensgrundlage. Ein so schlichtes wie prägnantes Sinnbild für die fragile Existenz dieser Region, vielleicht des gesamten Landes.

Info

 

Landshaft

 

Regie: Daniel Kötter,

96 Min., Armenien/ Deutschland 2023; 

 

Weitere Informationen zum Film

 

 

Grenze durchschneidet Goldmine

 

Der Sewansee, doppelt so ausgedehnt wie der Bodensee, ist der größte See des Kaukasus und der drittgrößte Gebirgssee der Welt: Er befindet sich auf 1900 Metern Höhe über dem Meeresspiegel. Die Gegend an seinem östlichen Ende ist die kälteste in ganz Armenien, denn sie wird auf den übrigen drei Seiten von Gebirgszügen eingefasst. Außer Weidewirtschaft mit Kühen und Schafen erlaubt das raue Klima nur Kartoffelanbau. Eine Goldmine ist der wichtigste Arbeitgeber – und zugleich ein sehr umstrittener, denn das Bergwerk wird von einer Staatsgrenze durchschnitten.

Offizieller Filmtrailer, OmU


 

Kontrollverlust seit 2020

 

Im ersten Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan 1988-1994 besetzten armenische Truppen nicht nur die überwiegend von Armeniern bewohnte Region Berg-Karabach, sondern auch umliegende Gebiete; darunter dasjenige östlich des Sewansees. Im zweiten Krieg 2020 verlor Armenien größtenteils die Herrschaft über diese Territorien, bis auf einen Teil von Berg-Karabach. Der wurde 2023 handstreichartig von Aserbaidschan erobert; in wenigen Tagen flohen mehr als 100.000 Armenier ins Mutterland. Seit mehr als drei Jahren fühlen sich daher die Leute am Ostufer des Sewansees von ihren Feinden eingekreist.

 

Das ist dem Film zunächst nicht anzumerken. In langen Totalen und ruhigen Schwenks nimmt die Kamera aus weiter Distanz auf, was in dieser Landschaft vorgeht: nicht viel. Wenige Autos bahnen sich ihren Weg über schmale Straßen und holprige Pisten, die sich gewunden durchs Gelände ziehen. Hirten treiben ihre Rinder- und Schafherden gemächlich mal hier-, mal dorthin. Erst bei genauem Hinsehen entpuppen sich ein paar Fahrzeuge als Kolonne von Militärlastern. Und ein Personenbus transportiert nicht etwa Überlandreisende: Er bringt Beschäftigte täglich zur Goldmine von Sotk und wieder zurück, damit der Betreiber – der kremlnahe russische Konzern GeoProMining – alles unter Kontrolle behält.

 

Auszüge aus zwanglosen Unterhaltungen

 

Im Bergwerk arbeiteten sie unter surreal anmutenden Bedingungen, erzählen die Kumpel auf der Tonspur: Auf der einen Seite stünden armenische Soldaten, ihnen gegenüber in 20 Metern Abstand aserbaidschanische Soldaten – bei Konflikten sei es schon zu Schusswechseln gekommen. Wer genau spricht, ist nicht auszumachen, was die Aussagen spontan und unbefangen klingen lässt. Ein Stilmittel, das Filmemacher Daniel Kötter, der selbst dreht und schneidet, perfekt einsetzt.

 

Anstatt Gesprächspartner frontal mithilfe eines Übersetzers zu interviewen, bringt er sie zusammen und bittet sie, sich ungezwungen zu unterhalten. Aus umfangreichen Tonaufzeichnungen – für diesen Film rund 50 Stunden – wählt er dann markante Aussagen aus, die er mit passenden Bildern unterlegt. Weder illustrieren sie einfach das Gesagte, noch verdoppelt es nur das Offensichtliche. Stattdessen bewegt sich dieses dokumentarische Verfahren in Richtung Essayfilm, bei dem Bild- und Tonspur scheinbar auseinander driften, sich aber inhaltlich ergänzen und erhellen: Selten ist eine Bild-Ton-Schere so informativ.

 

Gigantische Wellen aus Stein

 

Was durchaus lebensnah ist: Wenn etwa zwei Pkw-Insassen über Pläne für die Zukunft sprechen, der junge Fahrer sagt, er müsse und wolle bald zur Armee gehen – und nebenbei erwähnt, welche seiner Verwandten im Krieg gefallen sind. Oder die Kamera Fassaden schäbiger Wohnblocks in Wardenis abtastet, dem größten Städtchen der Gegend – derweil Einwohner erzählen, welchen Wohlstand die Goldmine ihnen früher beschert hat. Würde sie endgültig schließen, müssten sie darben oder abwandern.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Auf trockenen Gräsern" – eindrucksvolles Panorama von Gesellschaft + latentem Bürgerkrieg in Ostanatolien von Nuri Bilge Ceylan

 

und hier eine Besprechung des Films "The Promise – Die Erinnerung bleibt" – aufwändiges Kino-Epos über den türkischen Genozid an Armeniern von Terry George

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Stille und bewegte Bilder" mit Fotografien von Abbas Kiarostami in Bochum, Wiesbaden + Chemnitz.

 

Dabei taucht das Bergwerk von Sotk selbst nie auf. Für Fremde ist es eine No-go-Zone; auch Kötter bekam keine Drehgenehmigung. Umso ausgiebiger und eindrucksvoller rückt er die umgebende Bergwelt ins Bild: Wie gigantische Wellen aus Stein staffeln sich die schneebedeckten Gipfel des Kleinen Kaukasus am Horizont. Ihre Flanken laufen sanft in die Ebene aus; kein Baum oder Strauch stört die Fernsicht. Dürres Gras bedeckt kaum die dunklen Böden, denn der Filmemacher hat im Spätherbst und vor Frühlingsbeginn gedreht.

 

Politisch zerklüftetes Geo-Kontinuum

 

Diese Szenerie erscheint fast entfärbt, aber voller Schraffuren und anderer filigraner Muster; fast graphisch wie ostasiatische Tuschemalerei. Oder sie ähnelt den kargen Weiten Ostanatoliens, denen der türkische Regisseur Nuri Bilge Ceylan grandios malerische Bildkompositionen abgewinnt. Man mag auch an den visuellen Minimalismus denken, der Filme und Fotografien seines 2016 verstorbenen, iranischen Kollegen Abbas Kiarostami prägte. Nicht von ungefähr: Geographisch bilden Ostanatolien, Armenien und der Nordiran ein Kontinuum.

 

Doch politisch könnte diese Weltgegend zerklüfteter kaum sein. Und mittlerweile auch technologisch: Iran und Türkei stellen Kampfdrohnen her. Ankara beliefert damit Aserbaidschan, was entscheidend zu dessen Siegen 2020 und 2023 beitrug. Gegen solche unbemannten Flugwaffen ist Armenien weitgehend schutzlos. Während des jetzigen, brüchigen Waffenstillstands werden sie offenkundig von Baku weiterhin eingesetzt; unter den Sewansee-Anwohnern ist das häufig Gesprächsstoff. So verweist diese spröde, aber wie eine friedliche Idylle wirkende Landschaft auf ihr Gegenteil: Die tödliche Gefahr bleibt unsichtbar.