
Es beginnt in einem großen Raum voller Gerümpel und auf dem Boden verteilter Kisten. Zaghaft tritt eine junge Frau herein und macht sich mit der Umgebung vertraut. Sie scharrt in den mit Sand oder Schotter gefüllten Kisten und schaltet schließlich einen Projektor an. Auf einer Leinwand erscheint eine Reiterin auf einem Pferd, das auf der Stelle tritt. Diese Szene wird die junge Frau noch oft betrachten und versuchen, sie adäquat zu vertonen.
Info
Piaffe
Regie: Ann Oren,
86 Min., Deutschland 2022;
mit: Simone Bucio, Sebastian Rudolph, Simon(e) Jaikiriuma Paetau
Weitere Informationen zum Film
Obsession + Metamorphose
Also macht sie sich näher mit Pferden vertraut, und nach kurzer Zeit intensiver Betrachtung werden die Tiere zu ihrer Obsession. Das führt zum Erfolg: Sie findet die richtigen Materialien für den Job, beißt beim Vertonen wie ein Pferd auf Ketten und eine Art Trense. So sehr gibt sie sich der Faszination für ihre Aufgabe hin, dass ihr nach einer Weile ein echter Pferdeschweif wächst. Zuerst trägt sie den verdeckt, später aber auch offen. Dadurch interessiert sich endlich der verschrobene Botaniker (Sebastian Rudolph) für sie, der sich sonst lieber mit Farnen als mit Frauen beschäftigt.
Offizieller Filmtrailer
Die Zentaurin erwacht
Der Begriff „Piaffe“ bezeichnet eine Figur im Dressurreiten, bei der das Pferd eine trabartige Bewegung auf der Stelle ausführt. In Ann Orens gleichnamigen Film ist nichts gewöhnlich. Gedreht auf grobkörnigem 16mm-Material zeugt er von unbedingtem Stilwillen, ohne mit Ausstattung protzen zu können oder zu wollen. Begleitet von einer expressiven Tonspur fängt die Kamera äußerst sinnlich die Vermehrung und Entfaltung von Pflanzen aus nächster Nähe ein – eine in der Kunst- und Filmgeschichte oft bemühte Metapher für erwachende Sexualität.
Weniger subtil, aber umso eindrucksvoller ist Evas Pferdeschwanz, der sich zunächst winzig, geradezu zaghaft zeigt. Bald wächst er zu voller Länge heran und erweist sich außerdem als äußerst empfindlich. Als Frau mit Pferdeanteil wird Eva quasi zum weiblichen Zentauren, einem modernen Fabelwesen. Es kommt – anders als der klassische, kraftstrotzende und immer männliche Zentaur – eher sanft und leise daher. Natürlich geht es um ihre erotische Selbstfindung, um das Ausleben nicht alltäglicher Sexualität wie etwa SM – und darüber hinaus die Lust am altmodischen Filmemachen.
Date im Kaiser-Panorama
Die in Berlin lebende israelische Regisseurin und Künstlerin Ann Oren erschafft dafür in ihrem Spielfilmdebüt eine angenehm zeitlose, nur teilweise moderne Welt: Rohschnittmuster werden hier noch in einem kleinen Vorführraum gesichtet, und Evas Telefon hat eine Wählscheibe. Eine besondere Bedeutung kommt außerdem einem Kino-Vorläufer zu: Das holzverkleidete Stereoskop namens Kaiser-Panorama, in dessen Mitte die Betrachter standen, war um 1900 eine Massenattraktion. Es ließ zweidimensionale Bilder räumlich erscheinen.
Hintergrund
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Kino der fließenden Grenzen
Als bildender Künstlerin geht es Oren nicht so sehr um dramaturgische Kohärenz oder Plausibilität. So springt die Handlung nonchalant zwischen Schauplätzen in Berlin und Warschau hin und her. Eher entwickelt sich der Film zu einer Mischung aus Performance-Kunst und traumhafter Wirklichkeit, wo alle Grenzen fließend sind – nicht nur, aber auch zwischen den Geschlechtern. Evas Verwandlung lässt sich auch als Anspielung auf die Übergangsphase von Transmenschen verstehen.
Man kann dieses sehr verklausulierte Filmexperiment aber auch als erotisch aufgeladene Hommage an das unterschätzte Filmhandwerk des Geräuschemachens sehen; oder als Ode an das Kino selbst, als Ort der mitunter ekstatischen Freude und des tiefen Schmerzes. Auch wenn „Piaffe“ kein rundum gelungenes Meisterwerk ist: Heutzutage solch einen eigensinnigen Film zu machen, ist äußerst mutig und verdient Respekt.