Was für eine Geschichte! Johann Friedrich Struensee, 1737 in Halle geborener Pastorensohn und Arzt, führt im dänisch regierten Altona die Pocken-Impfung ein. Er wird ab 1768 nicht nur Leibarzt, sondern auch Berater und schließlich Generalbevollmächtigter des geistesschwachen Königs Christian VII. In nur zwei Jahre reformiert er den gesamten dänischen Staat nach den Blaupausen der Aufklärung: Feudale Privilegien werden abgeschafft, bürgerliche Freiheiten eingeführt.
Info
Die Königin und der Leibarzt - En kongelig affære
Regie: Nikolaj Arcel; 133 min., Dänemark/ Deutschland 2012;
mit: Mads Mikkelsen, Alicia Vikander, Mikkel Følsgaard
Grundlage für das moderne Dänemark
Doch Thronfolger Friedrich VI., Sohn der am Ende verbannten Caroline Mathilde und Christians VII., nimmt das Aufklärungswerk ab 1784 wieder auf. Er legt damit die rechtlichen Grundlagen für das moderne Dänemark. Kein Wunder, dass dort heute jedes Schulkind die Affäre Struensee kennt.
Offizieller Film-Trailer
Enquist-Roman als Vorlage
Im Ausland ist das Schicksal des tragischen Aufklärers und Abenteurers dagegen wenig bekannt, trotz einer achtbaren Reihe theatralischer, filmischer und belletristischer Bearbeitungen des Stoffes – darunter Per Olov Enquists Roman «Der Besuch des Leibarztes» von 1999, der als Vorlage für das Drehbuch diente.
Umso verdienstvoller ist, dass der bislang im Ausland ebenfalls wenig bekannte dänische Regisseur Nikolaj Arcel einen klassischen Historien-Film gedreht hat; er hält sich an die überlieferten Fakten und bietet trotzdem großes Kino. In erlesenen Bildern präsentieren Bond-Bösewicht Mads Mikkelsen als Struensee, der junge Theaterschauspieler Mikkel Følsgaard als Christian VII. (auf der Berlinale mit einem Silbernen Bären ausgezeichnet) und die schwedische Hollywood-Hoffnung Alicia Vikander als Caroline Mathilde eine streckenweise rührend schöne Revolution von oben.
Parforce-Ritt der Gefühle
Sie nimmt den Zuschauer auf einen Parforce-Ritt der Gefühle mit: von Freundschaft, Liebe und Hoffnung im gesellschaftlichen Aufbruch über Härte und Hass im siegreichen Kampf gegen böse Mächte bis hin zu Verrat, Angst und Einsamkeit im Untergang. Und weil das Private immer zugleich politisch ist, entscheidet sich in der ménage à trois am Ende auch europäische Geschichte.
Dabei gehört zu den Glanzlichtern, wie Struensee es schafft, durch alle Verwirrungen des Königs hindurchzusehen, in ihm ein Fünkchen Vernunft auszumachen und anzufachen; die zunächst kindische, defensive Aufsässigkeit des Staats-Clowns zu fokussieren und zur Mündigkeit zu bringen. Das ist angewandter Glaube an den Menschen mit fast schon frühromantischer Schwärmerei.
Heilige Allianz der Philantropen
Kaum weniger exemplarisch die rückhaltlose Neugier von Caroline Mathilde, die sich als junge Zwangsverheiratete auf ihren königlichen Gebär-Auftrag beschränken könnte. Zumal ihr Gemahl Christian sie öffentlich düpiert, betrügt und damit verletzt – und sie ihn dennoch aus einer Grundzärtlichkeit heraus ernst nimmt, ernster als jeder andere am Hofe.
Ihre Affäre mit Struensee ist unausweichlich: als heilige Allianz der vorurteilsfreien Philantropen für den geistig immer gefährdeten König. Der wäre vielleicht sogar bereit, das erotische Timbre einer solchen Allianz, nicht aber den damit verbundenen Liebesentzug hinzunehmen.
Ambivalente historische Figur
Doch Struensee erscheint auch als ambivalente historische Figur. Er gibt dem König zuerst das nötige Selbstvertrauen, das er ihm kurz darauf wieder nimmt, als er das feudal-reaktionäre Kabinett entmachtet und sich zum alleinigen Regierungs-Chef aufschwingt. Er kassiert die eben erst gewährte Pressefreiheit, sobald sie seinen eigenen Handlungs-Spielraum gefährdet. Struensee instrumentalisiert zudem bedenkenlos die Königin und seinen eigenen Vertrauten Enevold Brandt – der noch vor ihm aufs Schafott steigen wird.
Hintergrund
Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.
Lesen Sie hier einen Bericht über die Verleihung des "Europäischen Filmpreises 2011" an Mads Mikkelsen.
Fesselnde Geschichtsstunde
Doch hier könnte die Schwäche sich als Stärke erweisen: weil Arcel es nicht primär der Dramaturgie, sondern seinen Akteuren überlässt, Kraft und Dynamik zu entwickeln. Letztlich verweisen alle offenen Fragen zurück auf die zentralen Figuren und setzen so das Nachdenken über sie in Gang – über die erotisch schillernde Magie des regierenden Philosophen und den anarchischen Infantilismus des Königs. Zum reinen Augenschmaus wird der Film so nicht – wohl aber zu einer fesselnden, aufwühlenden und anregenden Geschichtsstunde.