So beginnen Wunderkind-Melodramen à la „A Star is born“: Der kleine Afshin besucht eine private Kunstschule, sieht dort alte Filmaufnahmen von Rudolf Nurejew und ist fasziniert. Fortan will er Profi-Tänzer werden und überwindet alle Hindernisse – bis zum Triumph.
Info
Wüstentänzer - Afshins verbotener Traum von Freiheit
Regie: Richard Raymond,
104 Min, Großbritannien 2014;
mit: Freida Pinto, Reece Ritchie, Makram J. Khoury
Eindringlich durch abseitigen Ansatz
Das macht „Wüstentänzer“ zum eminent politischen Film. Ohne dass sich der Held im üblichen Sinn politisch engagieren würde: Er folgt nur seinem persönlichen „Traum von Freiheit“. Dadurch gerät er in die Machtkämpfe dieses tief gespaltenen Landes, das halbwegs freie Wahlen ebenso kennt wie mittelalterliche Kleidungs- und Verhaltensregeln. „Wüstentänzer“ ist vor allem ein Film über Alltag im heutigen Iran; sein eher abseitiger Ansatz macht ihn umso eindringlicher.
Offizieller Filmtrailer
Von Mama Tänze + Heroin übernommen
2009 kommt Afshin (Reece Ritchie) zum Studium nach Teheran und findet Anschluss an individualistische Kommilitonen. Drei von ihnen begeistert er für die Idee einer geheimen Tanzgruppe: Das Quartett trifft sich in einem verlassenen Lagerraum und übt Schrittfolgen aus Videoclips auf Youtube ein.
Dann taucht die undurchsichtige Elaheh (Freida Pinto) auf und beeindruckt sie mit perfektem Ausdruckstanz. Ihre Mutter war einst Primaballerina und hatte nach dem Sturz des Shahs Berufsverbot; sie konnte ihre Fähigkeiten nur noch an ihre Tochter weitergeben. Von Mama übernahm Elaheh auch die Drogensucht – ihre Mutter starb an einer Überdosis Heroin. Sie selbst will davon loskommen: Wann hat man das letzte Mal einen kalten Entzug auf der Leinwand gesehen?
Auftritt in Wüste vor 20 Leuten
Elaheh und Afshin kommen sich emotional näher; er will unbedingt mit ihr auftreten. Obwohl die Präsidentenwahlen bevorstehen und das öffentliche Klima angespannt ist: Bei Studenten-Kundgebungen für den Reformkandidaten Mussawi werden Freunde der beiden durch Schlägertrupps schwer verletzt.
Dennoch improvisiert die Gruppe einen Auftritt: weit außerhalb der Hauptstadt mitten in der Wüste. Dünen dienen als Bühne, ein paar Tücher als Requisiten. Das Paar tanzt, als ginge es um sein Leben; sein handverlesenes Publikum aus 20 vertrauenswürdigen Bekannten ist hingerissen.
Von Regime-Schergen verfolgt
Der Premiere bleiben ungebetene Gäste erspart: Afshins Freund Mehran (Bamshad Abedi-Amin) war zuvor gezwungen worden, die Gruppe zu verraten. Bei der Uraufführung führt er die Verfolger in die Irre – wofür sie sich an ihm rächen.
Nach den Wahlen verkündet Amtsinhaber Ahmadinedschad seinen Sieg; bei den folgenden Massendemonstrationen gegen Wahlbetrug gerät Afshin in die Fänge von Regime-Schergen und muss um sein Leben fürchten. Mit einem Trick kann er den Iran verlassen; Frankreich gewährt ihm politisches Asyl.
Underground-Partys mit Alkohol + Drogen
Bis auf wenige Details folgt dieser Plot der Lebensgeschichte von Afshin Ghaffarian, der 2009 über Deutschland nach Paris floh. Dort erhielt er ein Stipendium für das Centre National de la Danse und gründete seine eigene Compagnie. Der heute 27-Jährige tritt regelmäßig auf und hat an diesem Film tatkräftig mitgearbeitet.
Was man ihm anmerkt: Die Campus-Atmosphäre an der Uni in Teheran wirkt authentisch, ohne je überzeichnet zu sein. Für sittenstrenge Mullahs haben die Studenten nur Verachtung übrig, doch über Gegenentwürfe machen sie sich kaum Gedanken. Lieber genießen sie kleine Freiheiten: Partys mit reichlich Alkohol und Drogen in underground clubs oder unzensiertes Internet-Surfen über Proxy-Server – viele Webdienste wie Facebook und Twitter sind offiziell gesperrt.
Alle führen Doppelleben
Hintergrund
Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.
Lesen Sie hier ein Interview mit Hauptdarstellerin Freida Pinto über "Wüstentänzer"
und hier einen Bericht über den Film “Sharayet – Eine Liebe in Teheran” – lesbisches Coming-Out im Mullah-Regime von Maryam Keshavarz
und hier einen Beitrag zum Film “Huhn mit Pflaumen” – Bildungsbürger-Melodram im Teheran der 1950er Jahre von Marjane Satrapi
und hier eine Rezension des Films "Jahreszeit des Nashorns" - brilliantes Polit-Psychodrama über Exil-Iraner in der Türkei von Bahman Ghobadi.
Studentenleben zwischen klandestinem Konsum und offener Opposition gegen die Religions-Diktatur erzählt Regisseur Richard Raymond linear und wohltuend unaufgeregt. Er verzichtet auf melodramatisches Pathos und vertraut stattdessen auf ausdrucksstarke Schauspieler: Der Brite Reece Ritchie, der bisher meist in Historien-Spektakeln auftrat, überzeugt überraschend als persischer Nachwuchstänzer.
Furiose Auftritte für Freida Pinto
Seine Partnerin Freida Pinto wurde berühmt mit dem Welterfolg „Slumdog Millionaire“ (2008), der acht Oscars einheimste. Nun glänzt sie in ihrer bislang anspruchsvollsten Rolle – auch als Tänzerin: Ihre furiosen Auftritte hat sie ein Jahr lang einstudiert. Die hat der renommierte britische Choreograf Akram Khan entwickelt; durch seine Abstammung aus Bangladesh sind ihm südasiatische Stile vertraut.
Mit seinen anspruchsvollen Choreografien könnten die Darsteller auf Tournee gehen. „Wüstentänzer“ lässt sich allein als ästhetisch betörender Tanzfilm genießen. Doch seine eigentliche Qualität liegt im elegant unangestrengten Brückenschlag zwischen hehrer Kunst und hässlicher Realität: Tanz als Akt des politischen Widerstands.