Traue nie einer Person, deren Gesicht oft in Nahaufnahme gezeigt wird! Meistens hat sie etwas Wichtiges zu verbergen. Das lehrt die Geschichte des Films, oder besser: die des Film noir. Der Psychothriller von Guillermo del Toro, in dem sehr viele Close-Ups vorkommen, ist eine Hommage an dieses Genre der 1940er Jahre. Prägende Stilelemente sind außerdem eine unheilvolle femme fatale, verschattete Einstellungen, eine pessimistische Atmosphäre von allgegenwärtiger Täuschung und Betrug sowie mysteriöse, von Schuldgefühlen geplagte Hauptfiguren.
Info
Nightmare Alley
Regie: Guillermo del Toro,
139 Min., USA 2021;
mit: Bradley Cooper, Cate Blanchett, Rooney Mara
Weitere Informationen zum Film
Details mit Codewörtern absprechen
Doch Carlisle erlebt dort einen schnellen Aufstieg. Vom ehemaligen Wahrsager Pete und dessen Ehefrau Zeena, die als „Medium“ arbeitet, lernt er die Kunst des Gedankenlesens und Trickbetrugs. Dabei überrascht das Duo Leute im Publikum mit persönlichen Details aus ihrem Leben; sie werden zuvor unbemerkt durch Codewörter zwischen Zeena und ihrem Assistenten abgesprochen.
Offizieller Filmtrailer
Vom Zirkus zu Art-Deco-Salons
„Menschen wollen unbedingt gesehen werden. Sie wollen dir sagen, wer sie sind“, erläutert Pete dem Neuling. Dabei folgen er und seine Frau moralischen Grundsätzen: Man müsse unbedingt den Trick am Ende der Vorstellung erklären. Niemals dürfe man der Versuchung verfallen, eine „Spuk-Show“ aufzuführen und vorzugeben, man würde wirklich mit höheren Mächten kommunizieren, betont der Wahrsager: Das könne schlimm ausgehen.
Nach einer Weile verlässt Carlisle den Zirkus mit seiner Geliebten, der Schaustellerin Molly (Rooney Mara). Zwei Jahre später inszenieren sie ihre eigene Show im New York der späten 1930er Jahre für den dortigen Geldadel. Das Ambiente hat sich völlig verändert: Anstelle von Bretterbuden unter bleiernem Himmel dominiert nun ein beeindruckender Art-Deco-Look aus geheimnisvoll ausgeleuchteten Büros und ellenlangen Fluren, die in sattem Grün und Gold gehalten sind.
Psychoanalyse für Trickbetrug
Carlisle tritt nun im schickem Maßanzug als gerissener Showman auf, der offenbar nur noch an Geld interessiert ist – weshalb die Zweifel seiner Partnerin wachsen, mit wem sie es eigentlich zu tun hat. Eines Tages lernt er die listenreiche Psychoanalytikerin Lilith kennen; Cate Blanchett spielt sie mit bohrenden Blicken überspitzt theatralisch als Klischee einer femme fatale. Es verwundert kaum, dass sie die Wendung ins Verderben ankündigt.
Da sie viele Patienten aus der New Yorker Oberschicht behandelt, bietet Carlisle ihr einen Deal an: Sie soll ihm möglichst intime Details ihrer Kundschaft verraten, mit denen er sie dann in privaten, bestens bezahlten Seancen konfrontieren wird. Im Gegenzug lässt er sich von ihr analysieren, natürlich nicht ohne Hintergedanken. Das funktioniert bestens. Doch eines Tages deckt der steinreiche Klient Ezra (Richard Jenkins) die betrügerische Absprache auf; Carlisle muss fliehen.
Leute glauben, was sie glauben wollen
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Shape of Water − Das Flüstern des Wassers" − fantasievolle Fantasy-Fabel über Fisch-Menschen, 2018 mit Goldenem Löwen prämiert, von Guillermo del Toro
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und hier einen Beitrag über den Film "Blue Jasmine" – brillante Tragikomödie von Woody Allen mit Cate Blanchett als Betrüger-Gattin
und hier einen Bericht über den Film "Trance – Gefährliche Erinnerung" – Psycho-Thriller über Kunstraub unter Hypnose von Danny Boyle.
Dieses Phänomen stellt der Film nicht nur ästhetisch gelungen, sondern auch passenderweise am Beispiel des zwielichtigen Wahrsager-Milieus dar. Immer wieder werfen Menschen ihre Vernunft über Bord und verfallen in Wunschdenken – sobald ihnen der kleinste vermeintliche Beleg dafür angeboten wird, dass es sich so verhält, wie sie es gerne hätten.
Große Gesichter können nicht lügen
So zahlt der Tycoon Ezra an Carlisle viel Geld, um mit seiner verstorbenen Geliebten Kontakt im Jenseits aufzunehmen – weil er sein schlechtes Gewissen entlasten möchte. Derart fehlgeleitetes Vertrauen erlebt der Zuschauer selbst: Ironischerweise ist er geneigt, den vielen Gesichtern in Großaufnahme auf der Leinwand stets zu glauben, was sie sagen. Damit erweist sich „Nightmare Alley“ als eine Art Meta-Film, der dem Publikum an sich selbst vorführt, wie verführerisch es ist, Lügen zu glauben, obwohl man es besser weiß.