
Aria träumt von einer Katze. Von einem Wesen, das für sie da ist, wenn alle sie wieder einmal im Stich gelassen haben. Asia Argentos dritter Film, bei dem sie Regie führt, beginnt mit dem Tagebuch-Eintrag einer Neunjährigen – und da steht auch: „Aria is strong“.
Info
Missverstanden – Incompresa
Regie: Asia Argento,
110 Min., Italien/ Frankreich 2014;
mit: Giulia Salerno, Charlotte Gainsbourg, Gabriel Garko
Drei Töchter aus drei Beziehungen
Arias Mutter (Charlotte Gainsbourg) ist Pianistin, der Vater (Gabriel Garko) Schauspieler. Sie ist die jüngste von drei Halbschwestern; die Älteste brachte der Vater aus einer vorhergehenden Beziehung mit, die Mittlere stammt von der Mutter. Aria, eindrucksvoll von Giulia Salerno gespielt, ist also das einzige gemeinsame Kind des Paares, das sich längst leidenschaftlich hasst.
Offizieller Filmtrailer, deutsch untertitelt
Familienhölle in Shabby Chic + Memphis Style
Das unerträgliche Familienleben ist geprägt vom hemmungslosen Egoismus der Erwachsenen, die offenbar in der Postpubertät stecken geblieben sind. Die beiden älteren Schwestern haben die emotionale Grausamkeit der Eltern bereits verinnerlicht; sie agieren gegenüber ihrer kleinen Schwester ebenfalls mit eigennütziger Gefühlswillkür.
Dieses coming of age-Drama spielt im Rom der 1980er Jahre: Die Schauplätze sind schwülbunt, die Familienhölle ist eine Wohnung zwischen Vintage, Shabby Chic und Memphis Style. Geld scheint keine Rolle zu spielen in diesem Elternhaus ohne Eltern, das eher einer Borderliner-WG ähnelt.
Vaters Kopfweh-Attacken + Aberglauben
Der Vater will den ganz großen Durchbruch als Star und kreist egozentrisch um seine Karriere, geplagt von Kopfweh-Attacken und hysterischem Aberglauben. Die Mutter spielt vorzugsweise Rachmaninow und nennt sich selbst eine „rote Hexe“. Sie schleppt einen Mann nach dem anderen ab, ist aber für die Töchter meist weder emotional noch lebenspraktisch erreichbar.
Selbstsüchtigere und verantwortungslosere Erziehungsberechtigte sieht man selten. Da wird Aria von ihrer launenhaften Mutter immer mal wieder vor die Tür gesetzt: „Geh doch zu deinem Vater!“. Der wiederum schickt sie zurück zur Mutter: Arias schwarze Katze, ihr ständiger Begleiter, bringt angeblich Unglück.
Katzen-Transport als plakatives Leitmotiv
Hintergrund
Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.
Lesen Sie hier eine Besprechung des Films “Mutter & Kind – Child’s Pose” – Psychodrama über verkorkste Mutter-Kind-Beziehung von Călin Peter Netzer, Berlinale-Siegerfilm 2013
und hier einen Bericht über den Film “We need to talk about Kevin” – beklemmendes Mutter-Kind-Drama von Lynne Ramsay mit Tilda Swinton, Europäischer Filmpreis 2011
und hier einen Bericht über den Film “Jackie – wer braucht schon eine Mutter” – tragikomisches Roadmovie von Antoinette Beumer.
Auch die Dialoge rutschen öfter in Klischees ab. „Missverstanden“ ist durchaus packend erzählendes Kino, der Film hat Tempo und Atmosphäre – aber subtile Psychologie und mehrschichtige Charaktere sucht man vergebens. Eher noch als die total eindimensional dargestellte Mutter ist der Vater eine schillernde Figur. Seinen Kindern zeigt er seine weiche Seite, doch das Verhältnis zur ältesten Tochter ist zweideutig; das Pummelchen könnte auch seine inzestuöse Geliebte sein.
Wie überlanger Musik-Videoclip
Die aufwändige Inszenierung und der umfangreiche soundtrack erwecken mitunter den Eindruck, es handele sich mehr um einen überlangen Musik-Videoclip als um die ernsthafte Auseinandersetzung mit seelischer Misshandlung von Kindern: Die Form dominiert den oft recht oberflächlichen Inhalt.
So ist die Hauptdarstellerin fast zu niedlich, um real zu wirken. Außer ihr gibt es keine einzige positiv gezeichnete Figur, nicht einmal ihre beste Freundin oder die Haushälterin. Die gute Nachricht ist: Man kann das alles überleben – solch eine schlimme Kindheit ebenso wie diese überstilisierte Aufarbeitung für die Leinwand.