Charlotte Gainsbourg

Missverstanden – Incompresa

Hinter 1000 Gittern keine Welt: Aria (Giulia Salerno) ist das einsamste Mädchen Roms. Foto: Rapid Eye Movies
(Kinostart: 22.1.) Künstler sein ist schwer – Künstler-Kind noch viel mehr: Regisseurin Asia Argento porträtiert eine Neunjährige, die von ihren Eltern im Stich gelassen wird. Schwülbunt inszeniert und in Musik ertränkt, wirkt der Film arg überstilisiert.

Aria träumt von einer Katze. Von einem Wesen, das für sie da ist, wenn alle sie wieder einmal im Stich gelassen haben. Asia Argentos dritter Film, bei dem sie Regie führt, beginnt mit dem Tagebuch-Eintrag einer Neunjährigen – und da steht auch: „Aria is strong“.

 

Info

 

Missverstanden – Incompresa

 

Regie: Asia Argento,

110 Min., Italien/ Frankreich 2014;

mit: Giulia Salerno, Charlotte Gainsbourg, Gabriel Garko

 

Website zum Film

 

Die Italienerin Argento – Ex-Model und hauptberuflich Schauspielerin – erzählt die schrecklich traurige Geschichte eines alleingelassenen Kindes. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen seien rein zufällig, behauptet die Filmemacherin, obschon ihr Milieu frappierend gut getroffen scheint. Ihr Vater Dario Argento ist einer der bedeutendsten Regisseure des Giallo; diese italienische, stark stilisierte Variante des Horrorfilms blühte in den 1970/80er Jahren. Formal und inhaltlich scheint in „Missverstanden“ einiges davon nachzuklingen.

 

Drei Töchter aus drei Beziehungen

 

Arias Mutter (Charlotte Gainsbourg) ist Pianistin, der Vater (Gabriel Garko) Schauspieler. Sie ist die jüngste von drei Halbschwestern; die Älteste brachte der Vater aus einer vorhergehenden Beziehung mit, die Mittlere stammt von der Mutter. Aria, eindrucksvoll von Giulia Salerno gespielt, ist also das einzige gemeinsame Kind des Paares, das sich längst leidenschaftlich hasst.


Offizieller Filmtrailer, deutsch untertitelt


 

Familienhölle in Shabby Chic + Memphis Style

 

Das unerträgliche Familienleben ist geprägt vom hemmungslosen Egoismus der Erwachsenen, die offenbar in der Postpubertät stecken geblieben sind. Die beiden älteren Schwestern haben die emotionale Grausamkeit der Eltern bereits verinnerlicht; sie agieren gegenüber ihrer kleinen Schwester ebenfalls mit eigennütziger Gefühlswillkür.

 

Dieses coming of age-Drama spielt im Rom der 1980er Jahre: Die Schauplätze sind schwülbunt, die Familienhölle ist eine Wohnung zwischen Vintage, Shabby Chic und Memphis Style. Geld scheint keine Rolle zu spielen in diesem Elternhaus ohne Eltern, das eher einer Borderliner-WG ähnelt.

 

Vaters Kopfweh-Attacken + Aberglauben

 

Der Vater will den ganz großen Durchbruch als Star und kreist egozentrisch um seine Karriere, geplagt von Kopfweh-Attacken und hysterischem Aberglauben. Die Mutter spielt vorzugsweise Rachmaninow und nennt sich selbst eine „rote Hexe“. Sie schleppt einen Mann nach dem anderen ab, ist aber für die Töchter meist weder emotional noch lebenspraktisch erreichbar.

 

Selbstsüchtigere und verantwortungslosere Erziehungsberechtigte sieht man selten. Da wird Aria von ihrer launenhaften Mutter immer mal wieder vor die Tür gesetzt: „Geh doch zu deinem Vater!“. Der wiederum schickt sie zurück zur Mutter: Arias schwarze Katze, ihr ständiger Begleiter, bringt angeblich Unglück.

 

Katzen-Transport als plakatives Leitmotiv

 

Hintergrund

 

Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.

 

Lesen Sie hier eine Besprechung des Films  “Mutter & Kind – Child’s Pose” – Psychodrama über verkorkste Mutter-Kind-Beziehung von Călin Peter Netzer, Berlinale-Siegerfilm 2013

 

und hier einen Bericht über den Film “We need to talk about Kevin” – beklemmendes Mutter-Kind-Drama von Lynne Ramsay mit Tilda Swinton, Europäischer Filmpreis 2011

 

und hier einen Bericht über den Film  “Jackie – wer braucht schon eine Mutter”  tragikomisches Roadmovie von Antoinette Beumer.

 

So streunt das Kind mit seinem Kater, den es auf der Straße aufgelesen hat, nachts durch Rom – wie eine minderjährige Verwandte von Holly Golightly, der in ihre Katze vernarrten Hauptfigur aus „Frühstück bei Tiffany’s“ von Truman Capote. Das Bild von der einsamen Aria, die ihr Haustier im kleinen Käfig durch dunkle Straßen schleppt, ist eines der arg plakativen Leitmotive des Filmes.

 

Auch die Dialoge rutschen öfter in Klischees ab. „Missverstanden“ ist durchaus packend erzählendes Kino, der Film hat Tempo und Atmosphäre – aber subtile Psychologie und mehrschichtige Charaktere sucht man vergebens. Eher noch als die total eindimensional dargestellte Mutter ist der Vater eine schillernde Figur. Seinen Kindern zeigt er seine weiche Seite, doch das Verhältnis zur ältesten Tochter ist zweideutig; das Pummelchen könnte auch seine inzestuöse Geliebte sein.

 

Wie überlanger Musik-Videoclip

 

Die aufwändige Inszenierung und der umfangreiche soundtrack erwecken mitunter den Eindruck, es handele sich mehr um einen überlangen Musik-Videoclip als um die ernsthafte Auseinandersetzung mit seelischer Misshandlung von Kindern: Die Form dominiert den oft recht oberflächlichen Inhalt.

 

So ist die Hauptdarstellerin fast zu niedlich, um real zu wirken. Außer ihr gibt es keine einzige positiv gezeichnete Figur, nicht einmal ihre beste Freundin oder die Haushälterin. Die gute Nachricht ist: Man kann das alles überleben – solch eine schlimme Kindheit ebenso wie diese überstilisierte Aufarbeitung für die Leinwand.