Reunion der Außenseiter: Regisseur Leos Carax wie die Filmmusik-Komponisten Ron und Russell Mael gelten als Exzentriker in ihren jeweiligen Metiers. Als „Sparks“ haben die US-Brüder seit 1971 mehr als 30 Alben mit schrägem Avantgarde-Pop aufgenommen – doch außer beim dritten namens „Kimono My House“ (1974) kamen sie kaum über Geheimtipp-Status hinaus.
Info
Annette
Regie: Leos Carax,
140 Min., Frankreich/ Deutschland/ Belgien/ USA 2021;
mit: Adam Driver, Marion Cotillard, Simon Helberg
Konzeptalbum goes Musical
Musik spielt in vielen Werken von Carax eine große Rolle. Als er für seinen letzten Film „Holy Motors“ (2012) einen Song der „Sparks“ verwendete, kam es zum persönlichen Kontakt mit den Mael-Brüdern. Nach längerem Hin und Her wurde aus der Idee für ein Konzeptalbum das Musical „Annette“.
Offizieller Filmtrailer
Bad boy meets good girl
Dieses Kinoerlebnis fällt so eigenwillig aus, wie seine Schöpfer agieren: Es strotzt vor cineastischem Wagemut und kümmert sich nicht darum, ob dabei jemand vor den Kopf gestoßen wird – eine Seltenheit in der kleinmütigen Gegenwart. Love it or leave it: Manche Zuschauer werden dem irrlichternden Reiz des Films verfallen, andere schimpfend den Saal verlassen.
Dabei ist die Ausgangslage konventionell: boy meets girl, in der Variante: bad boy meets good girl – mit erwartbar tragischen Konsequenzen. Der skandalumwitterte Stand-Up-Comedian Henry McHenry (Adam Driver) verliebt sich in die elegante Opernsängerin Ann Desfranoux (Marion Cotillard). Gegensätze ziehen sich an: Während Henrys Shows zwischen schmerzhafter Selbstentblößung und Publikumsbeschimpfung changieren, stirbt Ann jeden Abend in der Oper einen formvollendeten Bühnentod.
Wunderkind singt in aller Welt
Ihre überschäumende Amour Fou mit koketten Auftritten vor der Klatschpresse und Tagen voller Leidenschaft führt bald zu Heirat und Nachwuchs. Tochter Annette ist nicht ganz von dieser Welt – nämlich eine Holzpuppe. Fürs Babysitting wird vor allem Henry zuständig; das schläfert zuerst sein Begehren und dann seine Karriere ein. Nach einem skandalösen Ausraster in Las Vegas werden alle weiteren Shows abgesagt.
Neid und Wut haben fatale Folgen, die erst Ann und danach ihr Dirigent (Simon Helberg) zu spüren bekommen. Da wandelt Henry bereits auf einem neuen Weg zum Ruhm: Er lässt Baby Annette, das von seiner Mutter ihre herrliche Sopranstimme geerbt hat, als Wunderkind vor jubelnden Massen in aller Welt singen – bis zum letzten Auftritt beim US-Super Bowl.
Puppe als Marionetten-Allegorie
Das klingt aberwitzig, wirkt aber verblüffend stimmig. Auch wenn der Regisseur aus praktischen Gründen eine Holzpuppe verwendet, weil ein Kleinkind beim Dreh kaum mitspielen würde – als Allegorie seiner marionettenhaften Existenz, die von seinem Vater bestimmt wird, ist sie eindrucksvoll passend. Generell verzichtet Carax auf psychologische Erklärungen für seine Figuren; sie sind mehr Archetypen als Charaktere – brillant besetzt bis in die Nebenrollen.
Adam Driver gibt den Komiker mit vollem Körpereinsatz: als Paradebeispiel eines selbstzerstörerischen Alpha-Mannes, der seine Labilität hinter Witzeleien, Muskelspiel und Kontrollsucht versteckt. Im Schatten ihres unberechenbaren Gatten verharrt Marion Cotillard, die ihre Ann ebenso fabelhaft spielt, als passiv-empfindsam ahnendes Wesen – wie auf der Opernbühne dem Untergang geweiht.
Groteske, Satire + Tragödie
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Holy Motors" - experimenteller Episodenfilm von Leon Carax
und hier eine Besprechung des Films "Die unerschütterliche Liebe der Suzanne" - beeindruckendes Drama von Katell Quillévéré
und hier ein Beitrag über den Film "To the Wonder" - einzigartiges Liebes-Drama voller Bilder-Poesie von Terrence Malick
Fast alle Dialoge werden intoniert. Die Lieder vom Popsong bis zur Opernarie treiben die Handlung voran und drücken die Gefühle der Akteure aus. Regisseur Carax ließ seine Darsteller während der Dreharbeiten live singen anstatt Playback zu verwenden, wie bei Film-Musicals sonst üblich.
Nur im Original mit UT zu erleben
Gerade weil Driver und Cotillard keine Profisänger sind, berühren ihre Stimmen umso mehr. Diese Ungeschliffenheit passt zum hochemotionalen Geschehen. Zurecht hat sich der Verleih entschieden, den Film nur als Original mit deutschen Untertiteln ins Kino zu bringen: Für diese großartige cineastische Achterbahnfahrt bekam der Regisseur Carax in Cannes den Preis für die beste Regie.