Sam Riley

Cranko

Opus1: Geburt, getanzt vom Stuttgarter Ballett. Foto: © Philip Sichler / Zeitsprung/ SWR / Port au Prince
(Kinostart: 3.10.) Tanz auf dem schwäbischen Vulkan: In den 1960er Jahren führte der südafrikanische Choreograph John Cranko das Stuttgarter Ballett zu Weltruhm. Regisseur Joachim A. Lang beleuchtet Licht- und Schattenseiten seiner Karriere, ist aber sehr von seiner Neigung zur Selbstzerstörung gebannt.

„Erst, wenn man sieht, wie schrecklich Menschen sein können, lässt sich auch sehen, wie schön sie sind“: Das erzählt der südafrikanische Choreograph John Cranko (Sam Riley) bei seiner Begrüßung im Württembergischen Staatstheater dem Intendanten Walter Erich Schäfer (Hanns Zischler) beim Cognac. Unmittelbar danach springt eine Rückblende in eine schaurige Szene aus seiner Kindheit.

 

Info

 

Cranko

 

Regie: Joachim A. Lang,

128 Min.,  Deutschland 2024;

mit: Sam Riley, Elisa Badenes, Max Schimmelpfennig, Hanns Zischler 

 

Weitere Informationen zum Film

 

Nachts hört der junge John Schreie, schaut aus dem Fenster und sieht, wie auf der Straße Männer eine auf dem Boden liegende Frau auspeitschen. Mit diesem drastischen Kontrast beginnt Regisseur Joachim A. Lang sein Biopic über John Cranko. Das Spannungsfeld zwischen dem Schönen und den Schattenseiten des Lebens als Quelle von Crankos schöpferischer Energie bleibt ein Leitmotiv des Films.

 

Aus London vertrieben

 

Der 1927 geborene Cranko zieht 1961 aus der Metropole London ins vergleichweise provinzielle Stuttgart, um dort als neuer Ballett-Direktor des Staatstheaters zu arbeiten. In Großbritannien darf er nicht mehr inszenieren, weil er wegen „unerlaubter sexueller Handlungen“ verurteilt wurde. Später erfährt man, das ein Polizist ihn unter Vortäuschung sexuellen Interesses in eine Pub-Toilette gelockt hatte, um ihn dann festzunehmen.

Offizieller Filmtrailer


 

Neuanfang mit Hindernissen

 

In Stuttgart wird er mit offenen Armen empfangen, macht sich aber auch nicht nur Freunde. So feuert er an seinem ersten Tag die Primaballerina, weil sie sich weigert, eine schauspielerische Geste einzubauen. Sie wird gegen den Widerstand des Intendanten durch die Brasilianerin Marcia Haydée (Elisa Badenes) ersetzt. Ein offizielles Büro schlägt Cranko aus; stattdessen erledigt er seine Schreibarbeit in der Kantine. Er schätzt die Nähe zu Menschen und will, dass auch Taxifahrer verstehen, was in seinen Stücken vor sich geht. 

 

Die Tanzcompagnie gewöhnt sich schnell an seine temperamentvolle, manchmal launische Art; das Publikum feiert seine unorthodoxen Stücke. Doch je erfolgreicher Cranko wird, desto einsamer fühlt er sich. Seine Herkunft, seine Homosexualität und sein Talent machen ihn zum Außenseiter. Er hat niemanden, mit dem er Erfolge oder Zweifel teilen kann.   

 

Stuttgarter Ballettwunder

 

In der Tat beeinflusste Crankos innovative Verschmelzung von klassischem Tanz mit modernen Elementen nicht nur die Stuttgarter Tanzcompagnie. Seine Arbeit setzte auch weltweit neue Maßstäbe und wurde damals als „Stuttgarter Ballettwunder“ bezeichnet. Doch seine Beziehungen zu Freunden und Kollegen blieben angespannt, und seine Versuche, romantische Bindungen einzugehen, scheiterten oft an seiner Hingabe an die Kunst.

 

Zur Illustration dieser Einsamkeit greift Regisseur Lang zum Magischen Realismus, bei dem Übernatürliches mit Alltäglichem verschmilzt. Wenn Cranko etwa tagträumend durch Stuttgart spaziert, wird eine Parkbank zur Requisite einer Tanz-Performance, während sich darumherum alles verdunkelt. Die Dunkelheit ist ein Vorbote des Kommenden.

 

Zusammenbruch in New York

 

1969 erreicht Cranko den Höhepunkt seiner Erfolge: Die Stuttgarter Compagnie wird an die Metropolitan Opera in New York eingeladen. Ein Triumph: Sämtliche US-Kritiken loben die deutschen Außenseiter in höchsten Tönen. Doch zugleich treten Crankos dunkle Seiten stärker hervor. Als der Leiter der Met beim Empfang des deutschen Botschafters genüsslich aus der Presse zitiert, brechen sich alle Widersprüche in Crankos Innenleben Bahn. In Großaufnahme wechselt sein Gesicht innerhalb von Sekunden von Freude zu Traurigkeit und Wut.

 

Scheinbar grundlos steht er auf und beleidigt den Tänzer Heinz Clauss (Friedemann Vogel), nur um sich am nächsten Tag reumütig zu entschuldigen. Beides sehr überzeugend – dank der schauspielerischen Leistung von Sam Riley, der seit Jahren in Berlin lebt und gut Deutsch spricht. Dass künstlerischer Ruhm und Selbstzerstörung benachbart sind, ist ihm nicht fremd: Im Film „Control“ (2007) von Anton Corbijn verkörperte er Ian Curtis, Frontmann der Postpunk-Band „Joy Division“, der ähnlich am Leben litt wie Cranko.

 

Zuviel Drama gegen Ende

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Mackie Messer - Brechts Dreigroschenoper" – komplexes Making-of-Dokudrama von Joachim A. Lang 

 

und hier eine Besprechung des Films "Das Leben ein Tanz" – mitreißendes Drama über die Laufbahn einer Ballerina von Cédric Klapisch

 

und hier einen Bericht über den Film "Cunningham" – informative Doku über den Choreographen Merce Cunningham von Alla Kovgan

 

und hier einen Beitrag über den Film "Feuer bewahren - nicht Asche anbeten" – gelungene Tanz-Doku über den Choreographen Martin Schläpfer von Annette von Wangenheim.

 

Trotzdem hat der Film genau an der Schnittstelle zwischen Kunst und Leben eine Schwachstelle. Im Vergleich zu etlichen Biopics, die sich auf persönliche Kämpfe der Protagonisten mit sich selbst konzentrieren, hält er zunächst die Balance zwischen kreativen Leistungen und emotionalen Herausforderungen. Doch diese Ausgewogenheit geht gegen Ende verloren.

 

Cranko ausgiebig beim Trinken zuzuschauen, während er an seine gescheiterten Beziehungen denkt, ermüdet auf Dauer. Wenn seine Einsamkeit, sein Alkoholismus und sein ungesunder Ehrgeiz wiederholt für allzu sentimentale Szenen herangezogen werden, verliert der Film an Tempo und Fokus. Der Hang des Choreographen zu Melancholie und Selbstzerstörung wäre auch ohne solche überflüssige Melodramatik präsent.

 

Überzeugender Tanz, gelungene Kunst

 

Umso mehr überzeugen die künstlerischen Sequenzen. Die Ballett-Szenen fängt die Kamera von Philipp Sichler auf faszinierende Weise ein; so positioniert er sich beispielsweise am Boden zwischen den Tänzerinnen und folgt ihren Schritten auf Augenhöhe. Geradezu mitreißend sind die Passagen, in denen Regisseur Lang anschaulich vorführt, wie aus ersten Ideen und zögerlichen Proben allmählich flüssige Bewegungsabläufe entstehen, die in umjubelte Bühnen-Premieren münden.

 

Zudem wurde die Film-Compagnie mit tatsächlichen Mitgliedern des Stuttgarter Balletts besetzt. Primaballerina Marcia Haydée wird von der spanischen Solistin Elisa Badenes gespielt; die Fachzeitschrift „Dance Europe“ zeichnete sie 2023 als „Tänzerin des Jahres“ aus. Auch die Darstellung der anderen historischen Figuren überzeugt; vor allem Hanns Zischler als empathischer, aber auch steifer Intendant Schäfer mit NSDAP-Vergangenheit. So löst der Film durchaus ein, was Cranko selbst mit Blick auf die Entstehung von gelungener Kunst formuliert: „Das kann man sich nicht ausdenken, das muss entstehen.“