Chloé Zhao

Nomadland

Fern (Frances McDormand) gewöhnt sich recht schnell an das Leben als Arbeitsnomadin. Photo Courtesy of Searchlight Pictures. © 2020 20th Century Studios All Rights Reserved
(Kinostart: 1.7.) Home is where your heart is: Chloé Zhao feiert in ihrem preisgekrönten Werk die Fähigkeit, trotz widriger Umstände dem Leben das Beste abzuringen – eine bildgewaltige Elegie auf den amerikanischen Pioniergeist mit einer überragenden Hauptdarstellerin.

Anfang des 20. Jahrhunderts besaß eine Familie in der westlichen Welt durchschnittlich rund 180 Dinge – in den Konsumgesellschaften von heute sind es 10.000. Doch als sich Ferns (Frances McDormand) Leben drastisch ändert, bleibt von dieser Flut an Gegenständen gerade so viel, wie in ihren Van passt. Der Rest verstaubt in einer Garage.

 

Info

 

Nomadland

 

Regie: Chloé Zhao,

108 Min., USA 2020;

mit: Frances McDormand, David Strathairn, Linda May

 

Weitere Informationen zum Film

 

Die drahtige Frau Anfang 60 hat einige Schicksalsschläge zu verkraften: den Tod ihres Mannes, den Verlust ihrer Arbeit – und damit auch ihres Hauses. Die Bergbaugesellschaft, für das Paar jahrzehntelang gearbeitet hatten, ist bankrott und damit auch der Ort Empire, Nevada: ein Name mit bitterer Ironie für diesen sterbenden Ort, der tatsächlich auf der Landkarte der USA zu finden ist.

 

Home is where your heart is

 

Fern fällt durch die in den USA sehr weiten Maschen des sozialen Netzes – und wohnt fortan in ihrem Van. Mit ihm reist sie quer durchs Land von Gelegenheitsjob zu Gelegenheitsjob: im Weihnachtsgeschäft in Amazons Lagern, als Campingplatzwartin in einem Nationalpark oder bei der Zuckerrübenernte – um nur einige zu nennen. Wie Fern einer Bekannten im Supermarkt beiläufig erzählt, ist sie dabei keineswegs heimatlos, sondern nur ohne Haus. In dieser Unterscheidung liegt die Essenz: Home is where your heart is – und wenn das Leben dir Zitronen gibt, mach Limonade draus.

Offizieller Filmtrailer


 

Durchfall im Van

 

Der Film, der aus europäischer Perspektive eigentlich ein anklagendes Sozialdrama über die Ungerechtigkeit des US-Wirtschaftssystems sein müsste, feiert die Freiheit, Unabhängigkeit und Kraft des Individuums, Krisen als Chancen zu begreifen. Dass eine aus China stammende Regisseurin diese uramerikanischen Werte propagiert, spricht für ihre kulturübergreifende Anziehungskraft. Und auch wenn sie die politischen Umstände, die Ferns Leben bestimmen, weitgehend ausgeblendet, ist Zhao doch keineswegs blind für die soziale Not der Arbeitsnomaden und die Unwägbarkeiten ihrer Existenz.

 

Aber ob es nun um Durchfall im Van, einen Reifenwechsel oder die kostspielige Reparatur des in die Jahre gekommenen Vehikels geht: Das Glas ist im Zweifelsfall halb voll statt halb leer. Die Solidarität unter den Arbeitsnomaden und die grandiose Natur machen Fern den Verlust ihres alten Lebens erträglich. Unter den Nomaden gibt es Zusammenhalt und eine Offenheit, wie sie sich im sesshaften Leben nur selten finden. Fern wird vorbehaltlos akzeptiert, am Lagerfeuer kann jeder seine Geschichte und vor allem seinen Schmerz teilen. Und auch wenn die meisten allein reisen, treffen sie sich doch häufig wieder entlang ihrer Wege.

 

Im Abschied der Neubeginn

 

In der wohl häufigsten Einstellung folgt die Kamera Ferns Van, wenn er durch menschenleere Landschaften fährt. Die Natur ist die große Trösterin; menschliche Probleme relativieren sich angesichts der unermesslichen Weite der Landschaft. Wenn Fern sich nackt im Wasser treiben lässt oder sich in pittoresker Berglandschaft verliert, scheint sie ihren inneren Frieden gefunden zu haben.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Songs My Brothers Taught Me" – Debütfilm über Lakota Sioux Geschwisterpaar von Chloé Zhao

 

und hier einen Beitrag über den Film "The Rider" – einfühlsames Drama über verletzten Rodeoreiter von Chloé Zhao                     

 

und hier eine Besprechung des Films "Three Billboards outside Ebbing, Missouri"schwarzhumoriges US-Outsider-Drama von Martin McDonagh mit Frances McDormand , mit zwei Oscars prämiert

 

Menschen, die angesichts widriger Umstande zusammenhalten und mit ihrer Umgebung verwachsen sind, hat Chloé Zhao bereits in „Songs My Brothers Taught me“ (2015) und „The Rider“ (2017) portraitiert. In beiden Werken arbeitet sie mit Laiendarstellern: native Americans, die eine fiktionale Version ihres Lebens in ihrer Gemeinschaft auf die Leinwand bringen. Diese Vorgehensweise wendet sie auch in „Nomadland“ an, das auf dem gleichnamigen Sachbuch (2017) basiert. Die Journalistin Jessica Bruder beschreibt darin Arbeitsnomaden im Rentenalter, die es sich nicht leisten können, in den Ruhestand zu gehen. 

 

Etliche der im Buch Porträtierten spielen auch im Film fiktionale Varianten ihrer selbst. Bis auf Frances McDormand als Fern und David Strathairn als ihr Freund Dave sind alle Laiendarsteller. Das sorgt für eine hohe Authentizität dieser Milieustudie, die ohne dramatische Höhepunkte auskommt. McDormand, die auch die Produzentin des Films ist, fügt sich mit subtilem Ausdruck nahezu nahtlos in diesen Mikrokosmos ein.

 

Die Vergangenheit ihrer Figur wird allenfalls schlaglichtartig erhellt, aber so viel wird deutlich: Fern war wohl immer ein innerlich sehr unabhängiger Mensch. Es geht ihr nicht darum, versorgt zu sein – zwei Einladungen zu bleiben schlägt sie aus, obwohl sie durchaus akteptabel scheinen. Ihr Nomadenleben ist eher Neubeginn als Abschied. Oder, wie Bob Wells, der Guru der Arbeitsnomaden im Film, sagt: „There is no final goodbye“ – kein Abschied ist für immer.