Audrey Diwan

Das Ereignis

Sieht man schon was? Für die junge Anne (Anamaria Vartolomei) würde ein Kind das Ende ihrer beruflichen Ambitionen als Schriftstellerin bedeuten. Foto: © 2021 PROKINO Filmverleih GmbH
(Kinostart: 31.3.) Mein Bauch gehört mir: Eine ungewollt schwangere Studentin nimmt 1963 gegen alle Widerstände eine Abtreibung vor. Die kühle Seelenqualen-Chronik von Regisseurin Audrey Diwan nach einer Vorlage von Annie Ernaux scheut keine Drastik – prämiert mit der Goldenen Palme 2021.

Am Anfang machen die Körper noch Spaß: Anne (Anamaria Vartolomei) und ihre Freundinnen Brigitte und Hélène hübschen sich auf fürs abendliche Tanzvergnügen. Zwischen Blusen und BHs flachsen die drei über ihre Lust auf Jungs; später flirren ihre Flirts vor frivolen Scherzen. Doch Anne hat ihnen eines voraus, was diese nicht wissen: Sie ließ sich bereits entjungfern. Nun lächelt sie über ihre Mitstudentinnen, die immer nur davon reden, aber sich nicht trauen.

 

Info

 

Das Ereignis

 

Regie: Audrey Diwan,

100 Min., Frankreich 2021;

mit: Anamaria Vartolomei, Sandrine Bonnaire, Kacey Mottet Klein

 

Website zum Film

 

Dann auf Heimatbesuch beim Hausarzt der Schock: Anne ist schwanger. Nicht nur er wird ihr raten, das Kind auszutragen. 1963 ist Abtreibung in Frankreich noch illegal; allein der Versuch könnte sie ihre Gesundheit und Freiheit kosten. Doch Anne akzeptiert das nicht: Die hochbegabte Literaturstudentin aus kleinen Verhältnissen ist von brennendem Ehrgeiz beseelt. Sie will nicht wegen eines Babys ihr Studium abbrechen und danach wie ihre Eltern ein Dasein als Barbetreiber fristen müssen.

 

Codewort „Es“

 

Stattdessen will Anne es wegmachen. „Es“ ist das Codewort für ein Tabu, das alle kennen, aber keiner ausspricht: Damit soll die Betroffene bitteschön alleine zurechtkommen. Niemand will davon hören oder gar ihr beistehen, weder Freunde noch Verwandte – und schon gar nicht der bourgeoise Kommilitone aus dem fernen Bordeaux, der sie geschwängert hat.

Offizieller Filmtrailer


 

Ausführlich gezeigte Abtreibung

 

Bei ihrer vergeblichen Suche nach Verbündeten gerät Anne auch zwischen die politischen Fronten der Epoche zwischen stockkonservativen Gaullisten und revolutionsromantischen Kommunisten. Ein Gynäkologe verschreibt ihr eine Arznei, durch deren Injektion angeblich ihre Periode wieder einsetzen soll. Tatsächlich dient sie im Gegenteil dazu, den Embryo zu kräftigen, erfährt sie später.

 

Währenddessen tickt die Uhr: Eine Woche nach der anderen wird eingeblendet wie bei einem Countdown. Doch Anne gibt nicht auf und beißt sich durch: In der zwölften Woche findet sie endlich eine Engelmacherin, die ihr helfen kann. Die ausführlich gezeigte Prozedur der Abtreibung samt Entsorgung des Fötus in der Toilette mag zarte Gemüter befremden. Doch in einer visuellen Kultur, die sich nicht scheut, täglich auf Bildern Heerscharen niedermetzeln zu lassen, ist es auch völlig legitim, einen derart existenziellen Vorgang ungeschönt darzustellen.

 

Tunnelblick + Nabelschau

 

Wie das Thema an sich; Regisseurin Audrey Diwan hat das gleichnamige autobiographische Buch von Annie Ernaux aus dem Jahr 2000 verfilmt. Die Erfolgsautorin pflegt einen nüchtern sachlichen Stil, der oft als streng und schneidend empfunden wird. Diesen Duktus übernimmt Regisseurin Diwan für ihre Adaption: Häufig folgt die Kamera der Heldin in Schulterhöhe und zeichnet jede Bewegung auf. Redet sie mit jemandem, wechselt der Fokus hin und her, doch meist verschwimmt die Umwelt in leichter Unschärfe.

 

Schon klar: Anne ist isoliert und mit der Last ihrer Sorgen allein. Ihren Tunnelblick verstärkt das altmodische 4:3-Bildformat; ihre wachsende Panik akzentuieren allerlei hässliche Episoden und die anschwellende atonale Geräuschkulisse auf der Tonspur. Doch diese Nabelschau zieht den Zuschauer nicht in den Bann – aus zwei Gründen: dem fehlenden sozialen Umfeld und dem überschaubaren Schauspiel-Talent der Hauptdarstellerin.

 

Arrogant reserviertes Naturell

 

Unibetrieb ist bis heute in Frankreich viel stärker reglementiert als hierzulande. Nach den Vorlesungen und dem Mensa-Mittagessen ab ins Wohnheim zum Büffeln: So sehen für Studenten die meisten Wochentage aus. Trotzdem schaffen sie sich viele Gelegenheiten für kleine Fluchten und intensiven Austausch; vor allem in der bande, dem eingeschworenen Freundeskreis. Davon ist hier nichts zu sehen: Anne bleibt gegenüber Brigitte, Hélène und ihrem offenbar einzigen Freund Jean (Kacey Mottet-Klein) stets schnippisch reserviert.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "24 Wochen" - Abtreibungs-Drama von Anne Zohra Berrached

 

und hier ein Interview mit Regisseurin Anne Zohra Berrached über "24 Wochen"

 

und hier ein Beitrag über den Film „Ein freudiges Ereignis“ – realistische Tragikomödie über werdende Eltern von Rémi Bezançon

 

Das entspricht wohl ihrem Einzelgänger-Naturell – insofern ist sie mit Anamaria Vartolomei passend besetzt. Die verzieht kaum eine Miene, höchstens zum trotzigen Schmollen. Zu Beginn lässt sie ständig durchblicken, dass sie sich allen überlegen fühlt; später, dass sie auf alle pfeift. Selbst wenn sie auf andere angewiesen ist: „Sie müssen mir helfen!“, schleudert sie mehrfach Ärzten entgegen – welch einladende Aufforderung, sich strafbar zu machen.

 

60er-Seelenqualen + MeToo-Zeitgeist

 

Nun gelten Bürgerrechte auch für Unsympathen. Doch der kaltschnäuzige Hochmut der Hauptfigur macht es dem Publikum schwer, ihr Empathie entgegenzubringen. Zumal ihre Egozentrik der ihrer Umwelt gleichkommt: Sobald sie ihren Abtreibungstermin hat, gönnt sie sich einen Quickie – ist ja jetzt risikolos. So läuft diese kühl konstruierte Leidenschronik samt drastisch naturalistischer Details auf Geläufiges hinaus: Frauen zu verwehren, über ihren Körper selbst zu bestimmen, war inhuman – und ist es in vielen Teilen der Welt noch immer.

 

Allerdings mit einer bemerkenswerten Schlussvolte: Nach der qualvollen Abtreibung lernt Anne sofort mit Feuereifer für ihre Abschlussprüfungen – als Sprungbrett für eine Karriere als Schriftstellerin. Damit veranschaulicht der Film neben den Seelenqualen einer ungewollt Schwangeren in den 1960er Jahren auch den heutigen #MeToo-Zeitgeist. Was die Jury beim Festival von Venedig 2021 bewogen haben mag, ihn mit dem Goldenen Löwen zu prämieren.