Kamila Andini

Before, Now and Then (OT: Nana)

Nebenbuhlerin Ino (Laura Basuki, oben) hilft Nana (Happy Salma), zu ihren Gefühlen zu stehen. Foto: Kinofreund
(Kinostart: 29.6.) Selbstbefreiung im Windschatten des Massakers: Während 1965 Millionen sterben, entflieht eine Javanerin ihrem goldenen Käfig – mithilfe ihrer Nebenbuhlerin. Im ruhigen Fluss des erlesenen Bilderbogens transportiert Regisseurin Kamila Andini fremdartige Ästhetik und verstörende Symbole.

Der vergessene Völkermord: 1965 stürzte in Indonesien der rechtsgerichtete General Suharto mit stillschweigender Billigung der USA den eher linken Staatspräsidenten Sukarno. Um seine Macht abzusichern, entfesselte Suharto eine mörderische Hexenjagd auf Kommunisten, Gewerkschafter und Minderheiten: Zwischen einer und 2,5 Millionen Menschen wurden umgebracht – die genaue Zahl der Opfer ist unbekannt.

 

Info

 

Before, Now and Then (OT: Nana)

 

Regie: Kamila Andini,

103 Min., Indonesien 2022;

mit: Happy Salma, Arswendy Bening Swara, Laura Basuki 

 

Weitere Informationen zum Film

 

Dieses Massaker wurde bis heute weder aufgearbeitet noch gesühnt; die meisten Täter blieben unbehelligt. Auch in „Before, Now and Then“ wird der Staatsstreich nur kurz gestreift: in zwei Radio-Durchsagen und beim Geflüster einfacher Leute. Sie ermahnen einander, keine falschen Fragen zu stellen, um Ärger zu vermeiden. Gilt das auch für den 1965 spielenden Film selbst? Zumindest spielt der blutige Putsch im privaten Drama der Hauptfigur Nana (Happy Salma) keine Rolle.

 

Träume voller vergangener Gespenster

 

Anders als der indonesische Unabhängigkeitskrieg gegen die niederländische Kolonialmacht zwei Jahrzehnte zuvor, in dem ihr erster Ehemann Raden Icang spurlos verschwand. In der Anfangsszene flieht Nana mit ihrer Schwester Ningsih in den Urwald, um nicht Rebellen in die Hände zu fallen. Die erschlagen aus Rache ihren Vater – wie Nana träumt: Nachts wird sie häufig von den Gespenster ihrer Vergangenheit in gewalttätigen Szenen heimgesucht.

Offizieller Filmtrailer OmU


 

Luxusexistenz in der Plantagen-Villa

 

Umso friedlicher und ereignisärmer verläuft ihr Alltag im Wachzustand. Seit 15 Jahren ist sie mit dem wohlhabenden Gemüse-Plantagenbesitzer Mr. Darga (Arswendy Bening Swara) verheiratet. Das erlaubt ihr ein komfortables Dasein mit Hausangestellten in einer weitläufigen Villa samt Park – obwohl der Film in der Millionenstadt Bandung spielen soll, liegt das Anwesen einsam im Grünen. Ihre Tage verstreichen mit Haarpflege, feinen Mahlzeiten, Blumensteckkunst und Gamelan-Musik. Wobei Nana nie mittanzt.

 

Ihr deutlich älterer Gatte, den sie nur beim Nachnamen nennt, behandelt sie aufmerksam und zuvorkommend. Allerdings leistet er sich nebenher Geliebte, was er kaum zu verbergen versucht. Eine von ihnen ist Ino (Laura Basuki), die Kühe züchtet und auf dem Markt Fleisch verkauft; eines Tages schickt sie Nana eine gute Portion davon. Erst verursacht das bei der Empfängerin Brechreiz, dann sucht sie den Kontakt zur Absenderin – bald werden beide miteinander vertraut, bis Ino mit Nanas Einverständnis in der Villa übernachtet.

 

Elegie betörend schöner Tableaus

 

Unversehens taucht der lang vermisste Raden Icang wieder auf, und Nana fühlt sich abermals zu ihm hingezogen. Als sie sich Mr. Darga erklärt, gibt er sie frei, um ihrem Glück nicht im Wege zu stehen; die vier gemeinsamen Kinder – von denen zwei ohnehin von Verwandten groß gezogen wurden – müssen sich entscheiden, bei wem sie fortan leben wollen. Nur das jüngste im Säuglingsalter bleibt bei Nana. Jahre später trifft sie ihre mittlerweile halbwüchsige Tochter Dais wieder – und erklärt ihr, sie trage ihr Haar jetzt offen, weil sie keine Geheimnisse mehr habe.

 

Im westlichen Kino wäre dieses bewegte Melodram wohl Anlass für heftige Konfrontationen und lautstarke Wortwechsel. Anders hier: Regisseurin Kamila Andini flicht daraus einen elegischen Bilderbogen der leisen Töne aus betörend schönen Tableaus, bei dem man genau hinschauen und -hören muss, um zu bemerken, welche existentiellen Probleme und Konflikte verhandelt werden. Es empfiehlt sich, vorab eine Zusammenfassung der Handlung zu lesen, um nichts Entscheidendes zu übersehen.

 

Indonesische Ästhetik der Asymmetrie

 

Denn die Regisseurin ist eine Meisterin des Antiklimax. Wichtiges wird nur diskret erwähnt oder dezent angedeutet, weil die ostasiatische Kultur höflicher Zurückhaltung gebietet, unter keinen Umständen zu direkt zu werden: „Ich bin geschmeidig wie Wasser“, charakterisiert sich die Protagonistin: „Ich passe mich stets an“. Zudem reiht Andini ausgefeilt komponierte Aufnahmen großbürgerlicher Behaglichkeit aneinander, die auf Dauer die Aufmerksamkeit erlahmen lassen: Alles so einschläfernd geschmackvoll hier.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Midwives" - hervorragende Doku über zwei Frauen in Myanmar + die verfolgte Minderheit der Rohingya von Snow Hnin Ei Hlaing

 

und hier eine Besprechung des Films "The Look of Silence" – einfühlsame Doku über Opfer + Nachfahren der antikommunistischen Massaker in Indonesien 1965/6 von Joshua Oppenheimer

 

und hier einen Beitrag über den Film "The Act of Killing" – brillante Re-enactment-Doku über die Täter der antikommunistischen Massaker in Indonesien 1965/6 von Joshua Oppenheimer, Europäischer Filmpreis 2013

 

und hier eine Kritik der Ausstellung "Javagold – Pracht und Schönheit Indonesiens" - opulente Schmuck-Schau in den Reiss-Engelhorn-Museen, Mannheim

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "ID - Contemporary Art Indonesia" mit zeitgenössischer Kunst aus Indonesien im Kunstraum Kreuzberg, Bethanien, Berlin.

 

Aus hiesiger Sicht kann man das langweilig finden – und Nanas Selbstermächtigung durch Freundschaft mit ihrer Nebenbuhlerin reichlich unplausibel. Man kann „Before, Now and Then” aber auch als Einladung verstehen, die hierzulande kaum bekannte Ästhetik Indonesiens kennenzulernen; in ihr spielen etwa Asymmetrien eine zentrale Rolle. Unter seiner gefälligen Oberfläche enthüllt der Film recht fremdartige Prinzipien, etwa der temporalen Gewichtung: Alle drei im Titel genannten Zeitebenen kommen vor, doch die erste und letzte nur wenige Minuten.

 

Silberner Bär für beste Nebenrolle

 

Auch die Symbolik könnte verstören, würde sie nicht so ansprechend präsentiert. Ino ist nicht zufällig Fleischerin – sie verfügt über das, was Nana auf ihren Gemüsefeldern nicht findet, und das ist roh und blutig. Beide Frauen rauchen viel und drücken ihre Kippen gern in einem Messing-Ascher aus, der einer Riesen-Fliege gleicht – was prominent ins Bild gerückt wird. Haarnadeln und unerwartet überreichte Präsente fungieren mehrfach als Medien nonverbaler Kommunikation.

 

Wer auf derart beiläufig arrangierte Seltsamkeiten achtet, macht überraschende Entdeckungen; inklusive des Risikos, manches nicht oder falsch zu verstehen. Wie es der Berlinale-Jury 2022 unterlief: Sie prämierte die freundlich harmlose Laura Basuki mit einem Silbernen Bären für die beste Nebenrolle.

 

Bekannte Wuchtbrumme

 

Den hätte viel eher die renommierte indonesische Schauspielerin Happy Salma für ihre ultra-nuancierte Darstellung der Nana verdient gehabt. Doch der Preis für die beste Hauptrolle ging stattdessen an Meltem Kaptan als Titelfigur der Doku-Dramödie „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“ von Regisseur Andreas Dresen: Mit deutschtürkischen Wuchtbrummen kennt man sich hierzulande aus.