Agnieszka Holland

Green Border

Leila (Behi Djanati Atai) versorgt ein Kind mit ein paar Tropfen Wasser. Foto: © Agata Kubis, Piffl Medien
(Kinostart: 1.2.) Spielbälle des Systemkonflikts: 2021 strandeten Scharen von Migranten im Niemandsland an der belarussisch-polnischen Grenze. Diese Flüchtlingskrise verfilmt Regisseurin Agnieszka Holland nüchtern in Schwarzweiß, und dadurch umso anrührender – humanitärer Agitprop in Vollendung.

Jagdszenen in Ostpolen: Kleine Gruppen von Menschen laufen orientierungslos und verängstigt durch den Wald – auf der Flucht vor Uniformierten. Wenn diese ihrer habhaft werden, befördern sie sie auf die andere Seite der Grenze. Von Ost nach West werden sie über improvisierte Holzbrücken und durch Löcher im Stacheldrahtzaun gescheucht. Von West nach Ost geht es unsanfter zu: Die Menschen werden mit Schlagstöcken zurückgetrieben oder sogar im hohen Bogen über den Zaun geworfen.

 

Info

 

Green Border

 

Regie: Agnieszka Holland,

153 Min., Polen/ Frankreich/ Tschechische Republik/ Belgien 2023;

mit: Jalal Altawil, Maja Ostaszewska, Tomasz Włosok

 

Weitere Informationen zum Film

 

„Green Border“, also „Grüne Grenze“, meint eigentlich eine unbefestigte Grenze, die zu überqueren leicht fällt. An der belarussisch-polnischen Grenze ist das nicht der Fall; nicht nur wegen des ausgerollten Stacheldrahts, der mittlerweile auf 187 Kilometern Länge durch einen fünf Meter hohen Stahlzaun ersetzt worden ist. Sondern auch wegen der Systemgrenze, die hier verläuft: zwischen den ostslawischen Autokratien und der Europäischen Union.

 

Lukaschenkos falsche Versprechen

 

Als Schachzug in diesem Konflikt hatte Diktator Alexander Lukaschenko 2021 Flüchtlinge aus Krisenregionen wie Syrien, Irak und Afghanistan nach Belarus gelockt: mit dem falschen Versprechen einer freien Einreise in die EU. Dann wurden sie durch unwirtliche Waldgebiete nach Polen geschleust. Sobald sie auf dortige Grenztruppen trafen, wurden sie mit physischer Gewalt – Push-Backs genannt – zurück nach Belarus befördert. So irrten die Migranten auf der Suche nach einem Ausweg tagelang in sumpfigen Wäldern umher, ohne Nahrung oder medizinische Versorgung. Etliche starben.

Offizieller Filmtrailer


 

Verzicht auf übliche Gefühlsverstärker

 

Diese so genannte Flüchtlingskrise hat Agnieszka Holland, grande dame des engagierten polnischen Kinos, aus der Ameisenperspektive der Betroffenen verfilmt. Aus abstrakten Nachrichten und Pressebildern von frierenden, entkräfteten Gestalten werden plötzlich Charaktere mit einer Geschichte und Wesenszügen, die keinen Betrachter kalt lassen. Mit illegaler Einwanderung nach Europa assoziiert man bislang meist überfüllte Boote auf dem Mittelmeer. „Green Border“ ändert dies.

 

Dass der Film so nüchtern ist, macht ihn besonders eindrucksvoll. Nicht nur durch sein karges Schwarzweiß, was ihn durchgängig wie eine Reportage-Doku wirken lässt. Sondern vor allem durch den Umstand, dass Regisseurin Holland auf die üblichen dramaturgischen Gefühlsverstärker verzichtet: kein Gut-Böse-Schema, keine mit übermenschlicher Anstrengung überwundenen Hindernisse, fast kein happy end. Es gibt zwar Heldinnen und Helden, aber die treten denkbar unheroisch auf und tun nur, was ihnen ihr Gewissen gebietet.

 

Keiner entkommt Krisen-Folgen

 

Stattdessen verwebt der Film lauter kleine Episoden und Einzelschicksale zu einem dichten Geflecht, das unmittelbar einsichtig macht, wie sehr diese Krise jeden betrifft. Keiner kann sich ihren Folgen entziehen, auch hierzulande nicht – kaum 800 Kilometer von der nämlichen Grenze entfernt. Diese Wirklichkeitsnähe gewinnt die Regisseurin durch intensive Recherche: Sie hat mit den Ko-Autoren des Drehbuchs Hunderte von Interviews geführt. Jede Begebenheit im Film habe so oder ähnlich tatsächlich stattgefunden, hebt sie hervor.

 

Daraus destilliert Holland mehrere Hauptfiguren, die je einen Blickwinkel auf das Geschehen repräsentieren. Eine syrische Flüchtlingsfamilie, geführt von Bashir (Jalal Altawil), die mit wechselnden Leidensgenossen das grausame Katz-und-Maus-Spiel mit den Uniformierten im Grenzgebiet durchmacht. Der junge polnische Grenzsoldat Jan (Tomasz Włosok), der zusehends am Sinn seiner Einsätze zweifelt – seine Frau ist schwanger. Und die Grenzland-Bewohnerin Julia (Maja Ostaszewska), die unversehens zur wagemutigen Helferin wird.

 

Kritik von beiden Seiten

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Charlatan" – beeindruckendes Porträt eines tschechischen Kräuterheilers, verfolgt von NS + KP, von Agnieszka Holland

 

und hier eine Besprechung des Films "Die Spur (Pokot)" – originell-kühner Tierschutz-Thriller aus Polen von Agnieszka Holland, prämiert mit Silbernem Bären 2017

 

und hier einen Beitrag über den Film "Judgment – Grenze der Hoffnung" – episches Flüchtlingsdrama in Bulgarien von Stephan Komandarev

 

und hier einen Bericht über den Film "Seefeuer – Fuocoammare" – Doku über Flüchtlinge auf Lampedusa von Gianfranco Rosi, prämiert mit Goldenem Bären 2016.

 

Wegen seines multiperspektivischen Ansatzes kommt der Film ohne jeden politischen Überbau aus. Er zeigt nur schonungslos die Entbehrungen und Gefahren, denen Flüchtlinge bei ihrer Odyssee ausgesetzt sind. Dadurch erscheinen Ordnungskräfte, die nur Anweisungen ausführen, automatisch herzlos und grausam; es bedarf keiner Betonung. Umgekehrt wirken freiwillige Helfer, die Wasser und Essen verteilen oder Erste Hilfe anbieten, bewunderungswürdig aufopferungsvoll – obwohl sie die Bedürftigen nicht aus dem drei Kilometer breiten Grenzstreifen herauslotsen, weil das eine Straftat wäre.

 

Genau diese Herangehensweise hat „Green Border“ zur Zielscheibe von wütender Kritik der rechtspopulistischen PiS-Regierung gemacht, die im Oktober 2023 abgewählt wurde: Der Film präsentiert seine Sicht der Dinge als einzig menschenwürdige. Was ihn auch ohne ideologische Scheuklappen angreifbar macht; das hat in Polen selbst im linksliberalen Lager Debatten ausgelöst. Schließlich fliehen nach Europa nicht nur bemitleidenswerte Familien und urbane Akademiker – also Leute aus ähnlichem sozialen Milieu wie Holland und ihr Publikum –, sondern meist wenig qualifizierte junge Männer. Ebensowenig kommt das organisierte Schlepperwesen vor.

 

Gegen Ignoranz des Megaproblems

 

Dennoch: Ohne Sentimentalität oder Überzeichnung stellt die Regisseurin anschaulich und eindringlich dar, was es bedeutet, als Flüchtling auf unbekanntem Territorium zu stranden. Das ist schon viel in einer gesellschaftlichen Großwetterlage, die das Megaproblem Migration hartnäckig ignoriert, indem sie es der Bürokratie überlässt. Dagegen zwingt „Green Border“, hinzusehen: mit humanitärem Agitprop in Vollendung.