
Was macht ein weltberühmter Künstler, der nach 81 Tagen Haft unter Hausarrest steht und nicht in die Welt hinaus darf? Er lädt die Welt zu sich nach Hause ein. Und alle kommen: Familie und Freunde, Helfer und Unterstützer, Kollegen und Sammler, selbst Journalisten – jung und alt, aus dem In- und Ausland. So muss es früher in Patrizierhäusern zugegangen sein.
Info
Ai Weiwei –
The Fake Case
Regie: Andreas Johnsen,
86 Min., Dänemark 2013;
mit: Ai Weiwei
Jeden Augenblick aufzeichnen
Wer schon immer wissen wollte, wie das Dasein eines wohlsituierten Dissidenten mit Chauffeur und Hausangestellten aussieht, wird bestens bedient: von den Mahlzeiten über Spaziergänge und Ausflüge bis zu mehr oder weniger tief schürfenden Unterhaltungen mit Vertrauten bleibt kaum ein Augenblick im Tagesablauf undokumentiert.
Offizieller Filmtrailer
Agenten-Aschenbecher für Ausstellung
Dabei kommt Ais Kleinkrieg mit der chinesischen Justiz oft zur Sprache: Seit seiner Isolationshaft leide er unter Schlafstörungen und Vergesslichkeit, klagt er. Mit den Spitzeln, die ihn Tag und Nacht beschatten, liefert er sich Katz-und-Maus-Spiele; einmal entwendet er ihnen einen vollen Aschenbecher – und schickt den prompt als Exponat zu einer Ausstellung.
Johnsens Doku bietet auch Einblicke in Ais Arbeitsweise. Wenn der Künstler Dioramen mit Haft-Szenen für die Biennale 2013 anfertigen will, dann zimmern etliche Beschäftigte sechs Container oder modellieren Figuren von ihm und seinen Bewachern – Arbeitsteilung und Serienproduktion wie in Ateliers westlicher Großkünstler.
Wie Tournee-Doku für Popfans
Da die chinesischen Behörden Ais Firma „FAKE Design“ Steuerhinterziehung vorwerfen, muss er eine hohe Kaution aufbringen, um vor Gericht ziehen zu können. Anonyme Landsleute spenden ihm per Brief insgesamt eine Million Euro. Um Stapel von Geldscheinen zu zählen, sind ebenso viele helfende Hände nötig.
So erfährt man manches über Alltag und Umfeld des Künstlers – in bunter Reihenfolge. Er spricht oder packt an, was ihm in den Sinn kommt, und als getreuer Eckermann hält Johnsen alles fest. Seine enge Tuchfühlung setzt beim Zuschauer viel Vorwissen über Ai voraus: dessen Herkunft und Vita, wichtige Werke und Eckdaten seiner Verfolgung. Ähnlich wie bei Tournee-Dokus für Popfans, die alles über ihre Idole wissen – bloß bewegt sich hier der Held nicht aus der Stadt hinaus.
Auftragskunst für die Abendnachrichten
Hintergrund
Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.
Lesen Sie hier einen Bericht zur Ausstellung "Ai Weiwei - Evidence" - größte Werkschau des Künstlers im Martin Gropius Bau, Berlin
und hier einen Beitrag über die Doku "Die Moskauer Prozesse" - Re-Inszenierung der Schauprozesse gegen russische Künstler von Milo Rau
und hier eine Besprechung der Doku “Ai Weiwei – Never Sorry” - Porträt des Künstlers von Alison Klayman
und hier einen Bericht über die Debatte “Ai Weiwei: art, dissidence and resistance” mit hochrangigen chinesischen Teilnehmern im August 2011 im Haus der Kunst, München
Nur einzelne Szenen lassen aufmerken. Etwa Auftragskunst für die Abendnachrichten: Ein Fernsehreporter fordert Ai auf, er solle aus Polizei-Gummiknüppeln einen Stuhl bauen und sich stumm daneben stellen, weil er keine Interviews geben darf. Währenddessen will der Journalist den Artikel, den Ai für Newsweek über sein Leben in Peking schrieb, laut vorlesen. Der Künstler lehnt ab und schlägt stattdessen vor, ihn beim Duschen zu filmen. Nun weigert sich der britische TV-Mann: Das verstoße gegen Anstandsregeln.
Ein Monat würde alles ändern
Manchmal werden die Debatten grundsätzlicher. Ein radikaler Umbruch in China sei nahe, prophezeit Ai: „Entweder die Regierung kommt zur Vernunft, oder sie werden es mit einer Revolution zu tun bekommen.“ Die möchte er gern lostreten: „Wenn ich einen Monat lang Radio oder freie Presse machen könnte, würde sich alles ändern.“
Dafür gab sich selbst Lenin mehr Zeit – als Marxist glaubte er an eine gesetzmäßige Abfolge von Klassenkämpfen, die sich nur bedingt beschleunigen lassen. Anders Ai Weiwei: Die idealistische Annahme, dass große Männer Geschichte machen, verwandelt er dialektisch in eine Art negativen Personenkult. Je stärker das Regime ihn unterdrücke, desto größer werde sein Einfluss, versichert er: „Es ist schon komisch, dass sie aus mir einen Gott machen müssen.“