Tom Hardy + Noomi Rapace

Kind 44

Sieht fast so aus wie das berühmte Foto vom eroberten Reichstag: Im Zweiten Weltkrieg wird Leo Demidow (Tom Hardy) zum Helden stilisiert. Foto: © 2015 Concorde Filmverleih GmbH /Larry Horricks
(Kinostart: 4.6.) Die Sowjetunion als alltägliche Paranoia: Unter Stalin konnte jeder jeden denunzieren und dem KGB ans Messer liefern. Mit Serienkiller-Plot und großem Star-Ensemble legt Regisseur Daniel Espinosa die Wurzeln des heutigen Russland frei.

Im Kino-Gedächtnis über das 20. Jahrhundert gähnt ein riesiges schwarzes Loch: die Sowjetunion unter Stalin. Während Filme über Nazi-Verbrechen längst ein eigenes Genre bilden und jedem Widerstandskämpfer ein biopic gewidmet wird, kommt stalinistischer Terror selten auf die Leinwand. Das heutige Russland vertuscht seine blutige Vergangenheit, und im Ausland sind Wissen und Interesse überschaubar.

 

Info

 

Kind 44

 

Regie: Daniel Espinosa,

135 Min., USA 2014;

mit: Tom Hardy, Noomi Rapace, Gary Oldman, Vincent Cassel

 

Website zum Film

 

Jetzt wagt sich eine US-Großproduktion an das Thema: dirigiert von Ridley Scott, gedreht vom chilenisch-schwedischen Regisseur Daniel Espinosa und besetzt mit Stars wie Tom Hardy, Noomi Rapace und Gary Oldman, die gern für blockbuster mit Anspruch engagiert werden. Als Vorlage dient ein Erfolgs-Krimi des Briten Tom Rob Smith. Er verlegt die Mordserie eines realen Psychopathen, der 52 Frauen und Kinder zwischen 1978 und 1990 in Rostow am Don umbrachte, in die späte Stalin-Ära Anfang der 1950er Jahre.

 

Geheimdienstler-Gattin denunziert

 

Leo Demidow (brillant nuanciert: Tom Hardy) ist ein Kriegsheld der Roten Armee und hoch motivierter Offizier des Geheimdienstes, der merkwürdigerweise MGB heißt – etwa aus copyright-Gründen? Sehr effizient verhaftet und foltert Demidow jeden Spion und Systemfeind, bzw. wen seine Befehlshaber dafür halten. Als er und sein Kollege Wassilij einen Tierarzt in die Mangel nehmen, schwärzt der als Mitverschwörerin die Lehrerin Raissa an (überzeugt als mater dolorosa: Noomi Rapace). Sie ist Leos Frau.

Offizieller Filmtrailer


 

Sich als Werktätige in der Provinz bewähren

 

Leos Vorgesetzter (schön skrupellos: Vincent Cassel) fordert, er solle seine Gattin denunzieren; seine Eltern stimmen ein, um die Familie zu retten. Das verweigert Leo; prompt wird das Paar in die Provinz verbannt. In der fiktiven Industriestadt Wolsk am Ural sollen sich beide als Werktätige bewähren: er als einfacher Milizionär, sie als Putzfrau. Als Quartier dient ihnen ein finsteres Loch. So weit, so authentisch: Ähnliches widerfuhr damals Millionen von Sowjetbürgern

 

Nach einer Stunde fällt ein klassischer Krimi-plot vom ewig grauen Himmel; so willkürlich, das man ihn achselzuckend akzeptieren muss wie die Parteilinie. Am Bahndamm von Wolsk wird die übel zugerichtete Leiche eines Jungen gefunden. Sie erinnert Leo an den verstorbenen Sohn seines Kollegen Alexei in Moskau; dort hieß es, das Kind sei verunglückt.

 

Realitätsverweigerung + mörderische Heuchelei

 

Doch Leo sieht darin Untaten eines Serienmörders: Der Ex-Offizier überredet General Nesterow (milde resignativ: Gary Oldman), auf eigene Faust ermitteln zu dürfen. Leo treibt Belege für 43 vergleichbare Taten in ganz Russland auf. Stets wurden Verdächtige verurteilt und die Ermittlungen eingestellt; das tote Kind seines Kollegen war Nummer 44. Inkognito kehren Leo und Raissa nach Moskau zurück, finden aber nichts. Eine neue Spur führt nach Rostow ins Traktorenwerk, wo es zum show-down kommt.

 

Diese Verbrecherjagd ist so virtuos inszeniert wie unplausibel. Entweder ging der Täter extrem sorglos vor, oder die Ermittler waren verboten ignorant; was durchaus – siehe NSU-Affäre – möglich wäre. Allerdings passt das blendend zum eigentlichen Sujet des Films: Realitätsverweigerung und mörderische Heuchelei des Sowjetsystems.

 

Entweder Liebste oder sich selbst opfern

 

Hintergrund

 

Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.

 

Lesen Sie hier eine Besprechung des Films "Leviathan" – fesselnde Tragödie über Staatswillkür in Russland unter Putin von Andrej Swjaginzew

 

und hier einen Beitrag über den Film Dame, König, As, Spion – exzellenter Agenten-Thriller nach John Le Carré mit Tom Hardy + Gary Oldman

 

und hier einen Bericht über den Film "Hotel Lux" - brillante Stalinismus-Satire von Leander Haußmann mit Michael "Bully" Herbig

 

und hier einen kultiversum-Beitrag über den Film “Mitten im Sturm” - beeindruckendes Gulag-Drama von Marleen Gorris mit Emily Watson + Ulrich Tukur.

Es nötigte Untertanen zur permanent verschärften Selbstkontrolle, die an Paranoia grenzte. Eine überlebenswichtige Tugend im Reich des paranoiden Diktators, der sich von Feinden umzingelt wähnte, für alle Probleme Sündenböcke suchte und zwei Lösungen bevorzugte: Zwangsarbeit und Genickschuss.

 

Was totalitäre Herrschaft im Alltag bedeutet, führt der Film grausig anschaulich vor: Alle zwischenmenschlichen Beziehungen sind von Furcht und Misstrauen vergiftet. Jeder steht früher oder später vor der entsetzlichen Wahl, seine Liebsten oder sich selbst preisgeben zu müssen. Keiner ist davor gefeit: Selbst willfährige Büttel des Staatsapparats können im Nu zu Opfern werden.

 

Mördersuche unter Schuldigen

 

Selbstredend werden die neuen Menschen des Sozialismus von Lastern des alten Adam regiert: Neid, Gier, Rachsucht und Grausamkeit. Bezeichnenderweise benutzt keine Figur den Jargon der marxistisch-leninistischen Ideologie; er würde heute wohl kaum noch verstanden. Aber am Ende hat sich jeder die Finger blutig gemacht. Wo alle mehr oder weniger schuldig werden, wird die Suche nach einem pädophilen Kinderkiller letztlich überflüssig – und das Resultat unerheblich.

 

Selten erlaubt eine kommerzielle US-Produktion so ernüchternde politische Einsichten – da darf sie auch mit einer gutmenschelnden Schluss-Szene enden. Denn die Geschichte geht weiter: Nie hatten (post-)stalinistische Geheimdienst-Offiziere mehr Macht als im heutigen Russland. Ihr Regime ist zwar nicht mehr ganz so gewaltgetränkt, aber kaum weniger effektiv.