Stephan Schwietert

Imagine waking up tomorrow and all music has disappeared

Wenn alle Musik fort ist, hört man das Glucksen des Wassers besser: Bill Drummond entspannt. Foto: Real Fiction
(Kinostart: 22.10.) Ab morgen früh ist alle Musik weg – was dann? Solche Gedanken-Experimente sind nach dem Geschmack von Bill Drummond. Er war Pop-Weltstar, bevor er die Branche radikal sabotierte: ein hinreißendes Querdenker-Porträt von Regisseur Schwietert.

Stell dir vor, du wachst auf, und alle Musik ist verschwunden. Keine Tonträger, keine mp3-files, keine Noten, keine Instrumente. Wie würde es klingen, wenn Menschen das Musikmachen ganz neu erlernen müssten? Über solche Fragen zerbricht sich Bill Drummond gerne den Kopf. Er ist der Held im neuen Film des Schweizer Regisseurs Stefan Schwietert, der auf Dokumentarfilme über außergewöhnliche Musik spezialisiert ist.

 

Info

 

Imagine waking up tomorrow and all music has disappeared

 

Regie: Stephan Schwietert,

86 Min., Schweiz/ Großbritannien 2015;

mit: Bill Drummond

 

Website zum Film

 

Der in Südafrika geborene Brite Drummond ist ein Künstler, der out of the box denkt, also gegen den Strom. Sein mit James Cauty gegründetes dancefloor project „The KLF“ wurde zwischen 1988 und 1992 durch exzessives sampling bekannt. Beide hatten mehrere Welthits, bevor sie KLM mit einem lauten Knall beerdigten: Drummond betreibt konsequente Meta-Kunst.

 

Gegenentwürfe zur Kulturindustrie

 

Damals beschäftigten sich seine Werke mit der Kulturindustrie, heute mit möglichen Gegenentwürfen. Auch wenn er nun eher im Stillen arbeitet, bleibt sein Ansatz immer noch radikal. In diese Welt nimmt Regisseur Schwietert den Zuschauer eineinhalb Stunden lang mit: Die hochspannende Reise führt quer durch England, Wales und Irland, in die Vergangenheit und rund um den Potsdamer Platz.

Offizieller Filmtrailer


 

Alle Stimmen aufnehmen, anhören + löschen

 

Im Mittelpunkt steht dabei Drummonds Projekt „The17“. Der intuitiv gewählte Name steht für einen Chor, der keine festen Mitglieder hat. Es gibt weder Proben noch Noten, sehr wohl aber zahlreiche Partituren. Manche bestehen nur aus einem Imperativ-Satz, andere stammen von Schulkindern.

 

Die Partitur „CONSIDER“ etwa sieht vor, entlang eines bestimmten Breitengrades quer über die britischen Inseln zu reisen, überall spontane Mitglieder für „The17“ zu gewinnen, von ihnen Stimmaufnahmen einzusammeln, sie am Ende der Reise aneinander zu montieren, das Ergebnis einmal anzuhören – und anschließend zu löschen. So bildet Drummond aus Bauern, Nonnen, Taxifahrern, Fabrikarbeitern oder pub-Gästen Instant-Chöre, denen er simple Lautäußerungen entlockt, die niemand lernen muss: lang gezogene Töne oder ein kräftiges „Huh“.

 

Musik machen, die den Markt nie erreicht

 

Das Projekt bringt vieles auf den Punkt, was Drummonds Arbeitsstil ausmacht: ein gewisser Arbeiterklassen-Stolz, konzeptuelle Brillanz und tiefes Misstrauen gegenüber Oberflächenreizen und dem Prinzip von Kunst als Ware. In Zeiten, in denen die Bedeutung von Musik durch ihre universelle Verfügbarkeit allseits eingeebnet wird, muss ein quer denkender Künstler wie Drummond natürlich Musik machen, die den Markt nie erreicht. Er entzieht sie komplett jener durch Profitmaximierung geprägten Sphäre, die er so verabscheut. Und lacht sich dabei ins Fäustchen.

 

Ihn porträtiert Schwietert genauso wie andere Künstlerpersönlichkeiten, die seine Filme bevölkern. Ob Akkordeonisten oder Alphornbläser: Er nimmt sie bei Gesprächen und Proben auf, in Phasen von Anspannung und Entspannung, Aktion und Kontemplation. Dabei legt er ihre Arbeitsweise und Persönlichkeiten offen, ohne dass es vieler Off-Kommentare oder Archiv-Sequenzen bedarf.

 

Mit MPs aufs Gala-Publikum schießen

 

Gegenwart und Gegenwärtigkeit sind zentral bei dieser Erzählweise. Insofern war es ein Geschenk für den Regisseur, als quasi frei Haus Drummonds künstlerische Vergangenheit geliefert wurde, die dieser am liebsten nicht mehr ansprechen würde: in Form eines Umzugs-containers mit Erinnerungsstücken an die steile Karriere von „The KLF“.

 

Um 1990 war das Duo einer der populärsten dance acts mit sieben top ten hits in Großbritannien – und nebenbei ein situationistisches happening-Kommando. Dem über sie hereinbrechenden hype entzogen sich Drummond und Cauty, indem sie unter Getöse die Pop-Branche verließen. 1992 gewannen sie einen BRIT Award; bei der Preisverleihungs-Gala schossen sie aus Maschinenpistolen mit Platzpatronen aufs Publikum. Dann verschwanden sie zur Durchsage „The KLF has now left the music business“ von der Bühne.

 

Geldschein-Asche als Ziegelstein

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Besprechung der Doku "Balkan Melodie" über Musik-Pioniere in Osteuropa von Stefan Schwietert

 

und hier einen Beitrag über den Situationismus-Vortrag des Kunsthistorikers Tom McDonough auf den "Künstler-Kongressen" der dOCUMENTA (13)

 

und hier einen Bericht über die Doku "Im Garten der Klänge" über einen blinden Musiktherapeuten von Nicola Bellucci.

 

Auf der after show party hinterließen sie noch ein totes Schaf mit der Notiz: „I died for you. Bon appetit.“ Später verbrannten sie ihre Plattenerlöse in der ominösen K Foundation – buchstäblich: Am 23. August 1994 zündeten sie Geldschein-Bündel im Wert von einer Million britischer Pfund an, filmten das Feuer und pressten aus der Asche einen Ziegelstein.

 

Da „KLF“ unter anderem für Kopyright Liberation Front steht, löschten sie auch die Verwertungsrechte ihrer Musik. Niemand besitzt sie. Das bedeutet nicht nur, dass es seit 1993 keine Wiederveröffentlichung ihrer mittlerweile als Klassiker geltenden Platten gab und auch künftig nicht geben wird – sondern auch, dass in diesem Film keine KLF-Musik eingesetzt werden durfte.

 

Das Kino singend verlassen

 

Wie es Regisseur Schwietert gelingt, diese Leerstellen beredt zu machen; wie Drummond mit Enthusiasmus und Charisma seiner Urschrei-Vision nachgeht, und wie beide dabei geschickt der Frage ausweichen, wovon der Mann eigentlich lebt – das reicht für 90 Minuten herrliches Musik-Kino. Es wäre nicht verwunderlich, wenn die Zuschauer den Saal singend verlassen.