
Amazon für alle Astralnebel: Yoko Suzuki (Megumi Kagurazaka), ein Android mit der ID-Nummer 722, liefert Postpakete bis in die hintersten Winkel der Milchstraße aus. Mit ihrem kleinen, altersschwachen Raumschiff im retrofuturistischen Nostalgie-design dauern die Frachtflüge lange: Von einem Planeten zum anderen ist Yoko Jahre unterwegs.
Info
The Whispering Star
Regie: Sion Sono,
101 Min., Japan 2015;
mit: Megumi Kagurazaka, Kenji Endo, Yûto Ikeda
Paket-Übergabe an konspirativen Orten
Wenn Yoko auf einem Ziel-Planeten ankommt, muss sie weit zu Fuß laufen: auf einsamen Landstraßen, vorbei an Betontrümmern oder verlassenen Siedlungen. Die Adressaten findet sie auf geheimnisvolle Weise an quasi konspirativen Orten: in leer stehenden Hausruinen oder an einer Strand-Verkaufsbude. Diese Menschen haben sich auf entlegene Himmelskörper zurückgezogen, als bedrohte Minderheit: Mittlerweile stellen Roboter vier von fünf Bewohnern des Universums.
Offizieller Filmtrailer
Weder Fassbinder noch Tarantino oder Schlingensief
Irgendwann will Yoko wissen, was die Menschen einander per Paket zuschicken, obwohl sie jahrelang auf die Zustellung warten müssen. Sie öffnet die Kartons und findet Trödel: alte Fotografien, Milchzähne oder eine Zigarettenkippe. Dieser Kleinkram ist offenbar mit persönlichen Erinnerungen verbunden und den Absendern teuer – in einer Epoche, in der alles via Teleportation („Beamen“) im Nu überall hin gelangen kann, was jede Entfernung und Exotik entwertet hat. Doch beim altmodischen Postversand zählt die Geste.
Das Erstaunlichste an dieser mail order science fiction ist ihr Regisseur. Sion Sono darf als exzentrischster Filmemacher Japans gelten: Zügellos produktiv wie Rainer Werner Fassbinder dreht er grellbunte Melodram-Tragikomödien aus lauter genre-Klischees, bedient sich wie Quentin Tarantino hemmungslos bei trivia und trash und scheut dabei wie Christoph Schlingensief vor keiner Grenzüberschreitung oder Geschmacklosigkeit zurück. Von all dem findet sich hier: nichts.
Day after nach no future
„The Whispering Star“ ist ein leiser low budget-Schwarzweißfilm, mit leichter Hand hingetupft wie eine Tuschezeichnung. Seine verhalten lakonische Atmosphäre erinnert an das Frühwerk von Jim Jarmusch, an „Permanent Vacation“ (1980), „Stranger than Paradise“ (1984) oder „Down by Law“ (1986) – in diesen körnigen Bildern von unwirtlichen Nichtorten erkannte sich eine ganze no future-Generation wieder.
Hintergrund
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und hier einen Beitrag über den Film „Dr. Ketel – Der Schatten von Neukölln“ – origineller Low-Budget-SciFi-Medizin-Thriller von Linus de Paoli.
Höhlengleichnis mit Wandschirmen
Davon lenken auch die handgebastelten Pseudo-special effects, die an John Carpenters SciFi-Parodie-Geniestreich „Dark Star“ (1974) mit Medizinbällen als aliens und einer philosophierenden Bombe erinnern, nicht ab. Die entfernten Empfänger-Planeten, auf denen die Paketbotin landet, liegen natürlich in Japan: In der Provinz Fukushima sind weite Landstriche so verwüstet, dass sie umstandslos als surreale Kulisse für Endzeit-Dystopien herhalten können.
An ihrer letzten Station gelangt Yoko in ein kleines Utopia. Hinter papiernen Wandschirmen gehen zahllose Schatten allerlei Beschäftigungen nach, die Leben im vordigitalen Zeitalter einmal ausgemacht haben: herumtollen, sich unterhalten oder spielen. Ein platonisches Höhlengleichnis à la Sion Sono, allerdings ohne Ketten noch Höhlen-Ausgang. Die Dienstleisterin bleibt auf dem Dienstboten-Durchgang.
Setting by courtesy of tsunami
Mit solch minimalen Mitteln skizziert der Regisseur eine Gegenwartsdiagnose voll zärtlicher Melancholie. Vielleicht ist das so klarsichtig nur in Japan möglich; dessen super-ageing society muss sich seit zwei Dekaden in Stagnation und allmählichem Niedergang einrichten. Das setting für die Selbstabschaffung des Menschen liefert ein tsunami frei Haus. AKW-GAU, Haushalts-Roboter und Amazon same-day delivery: Mehr braucht es nicht für die Apokalypse.