Sion Sono

Guilty of Romance

Ein indiskretes Objekt der Begierde: Uni-Professorin Mitsuko in ihrem Outfit als Teilzeit-Prostituierte. Foto: Rapid Eye Movies
(Kinostart: 19.7.) Education érotique einer belesenen Hausfrau: Erst wird die brave Izumi zur Nutte, dann in einen Lustmord verstrickt. Alle Genre-Grenzen sprengend, gelingt Regisseur Sono ein Panorama der Passionen von Shakespearescher Wucht.

Dr. Jekyll and Mrs. Hyde: Die brave Hausfrau Izumi (Megumi Kagurazaka) langweilt sich in ihrer Ehe. Ihr Mann Yukio (Kanji Tsuda) hat als Schriftsteller mit schwülstigen Liebes-Romanen Erfolg, doch daheim ist er pedantisch und impotent. Um der häuslichen Ödnis zu entfliehen, preist Izumi als Teilzeit-Jobberin im Supermarkt Würstchen an.

 

Info

Guilty of Romance

 

Regie: Sion Sono, 138 min., Japan 2011;
mit: Megumi Kagurazaka, Miki Mizuno, Makoto Togashi

 

Weitere Informationen

 

Dabei wird sie als Foto-Modell entdeckt; die Agentur, bei der sie anfängt, macht auch Akt-Aufnahmen von ihr. Und lässt sie vor laufender Kamera von einem Beau vernaschen; ihr Partner küsst sie wach. Nun geht alles sehr schnell: Die entflammte Izumi putzt sich heraus und streunt durch Maruyama, das Rotlicht-Viertel von Tokio.

 

Tags Literatur-Dozentin, nachts Hure

 

Dort trifft sie auf Mitsuko (Makoto Togashi), die ein Doppelleben führt: Tagsüber lehrt die Literatur-Dozentin an einer Elite-Universität, nachts gibt sie sich zahlenden Freiern hin. Sie ködert die belesene Izumi mit raunenden Anspielungen auf Kafkas Roman «Das Schloss»: In Maruyama suchten alle nach diesem Schloss, ohne es je zu finden.


Offizieller Film-Trailer


 

Freier entpuppt sich als Ehemann

 

Halb fasziniert, halb abgestoßen lässt sich Izumi von Mitsuko zur Profi-Prostituierten ausbilden und heuert beim Callgirl-Ring «Club der kleinen Hexe» an. Dessen clownesker Chef-Zuhälter schickt sie zu einem Kunden, der mit Mitsuko nicht zufrieden ist. Doch dieser Liebes-Dienst überfordert die Novizin: Der Kunde entpuppt sich als ihr Ehemann.

 

Bis dahin folgt «Guilty of Romance» den Regeln eines «Pink Movie»: In dieser japanischen Spielart von Softcore-Pornos wird mehr oder weniger ästhetisches Liebesspiel mit melodramatischem Plot und aberwitzigen Einfällen garniert. Pink Movies sind erotische Fantasy, in denen erlaubt ist, was gefällt. Sogar das, was Regisseur Sion Sono daraus macht.

 

Kommissarin ist in SM-Affäre verstrickt

 

Er spielt virtuos mit Gattungs-Konventionen und sprengt sie zugleich in jeder Beziehung. Vor allem mit der Rahmen-Handlung, in die er Izumis education érotique einbettet, womit er ihr tragische Fallhöhe verleiht: Polizei-Kommissarin Kazuko (Miki Mizuno), selbst in eine außereheliche Affäre mit sadomasochistischer Komponente verstrickt, muss einen bizarren Lustmord aufklären.

 

In einem Abbruch-Haus mitten in Maruyama taucht die zerstückelte Leiche einer Frau auf: Ihre Teile wurden mit Gliedmaßen von Schaufenster-Puppen ergänzt. An der Wand prangt blutrot das Schriftzeichen für «Schloss». Kazukos Ermittlungen lenken sie auf eine Spur zur nymphomanischen Professorin und ihrer gelehrigen Schülerin. Aber wer ist Opfer, wer Täter?

 

Wachsende Würstchen + rosa Farb-Beutel

 

Die Auflösung des whodunnit besorgt der Regisseur beiläufig kurz vor Schluss: Letztlich ist egal, wer im entscheidenden Moment die Hand am Drücker hatte und wer ‚nur’ durch Beihilfe schuldig wurde. Viel mehr interessiert Sono das Netz aus verzehrend zerstörerischen Leidenschaften, das er allmählich um seine Protagonisten spinnt, bis sie sich unentrinnbar in ihm verfangen haben: Er betrachtet diesen Film als Abschluss seiner «Hass-Trilogie».

 

Der in betörend schönen Einstellungen und Szenen-Folgen daherkommt. Sono glänzt beim Einsatz von eindeutig mehrdeutigen Symbolen und Elementen. So werden die Würstchen, die Izumi im Supermarkt feilbietet, analog zu ihrem wachsenden sexuellen Appetit immer größer – während der Zuhälter-Clown mit rosa Farb-Beuteln um sich wirft, die noch den am meisten schockierenden Bildern einen karnevalesken Anstrich geben: Keine Angst, ist alles nur Kino!

 

Besser als Tarantino

 

Hintergrund

Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.

 

Lesen Sie hier eine Kritik des deutsch-japanischen Pink Movies "Underwater Love - A Pink Musical" von Shinji Imaoka

 

und hier eine kultiversum-Besprechung des Erotik-Thrillers "Eine Karte der Klänge von Tokio" von Isabel Coixet

 

und hier eine Lobes-Hymne auf den Experimental-Film "Enter the void" von Gaspar Noé über das Rotlicht-Viertel von Tokio.

Und zugleich unheimlich doppeldeutige Realität: Alle zeigen zwei Gesichter – wobei ihr nächtliches Antlitz umso lasterhafter ausfällt, je makelloser die Maske alltäglicher Wohlanständigkeit wirkt. Wie in der japanischen Gegenwarts-Gesellschaft, die allenfalls ein AKW-Super-GAU in ihrem routinierten Vertuschen, Beschönigen und Weiterwursteln aufstören kann.

 

Westliche Zuschauer mag Sono an Quentin Tarantino erinnern: Wie sein US-Kollege schöpft er aus dem Kosmos von Trash- und B-Movies, dessen Ikonographie er mit aufwändiger Produktion und Liebe zum Detail veredelt. Doch Tarantinos comicartige Bilderbögen geraten immer selbstreferentieller und –genügsamer. Dagegen steigert sich Sono mit jedem Film: Das Genre «Pink Movie» erlaubt ihm, seiner überschäumenden Imagination und schonungslosen Analyse menschlicher Passionen die Zügel schießen zu lassen.

 

Fassbinder für das 21. Jahrhundert

 

Damit nähern sich seine jüngsten Arbeiten dem Spätwerk von Rainer Maria Fassbinder an. Der verstand ebenso unnachahmlich, aus Kolportage-Versatzstücken groteske Melodramen zu komponieren, in denen er die großen Themen der Nachkriegs-Bundesrepublik abhandelte. Sono leistet Ähnliches für das globalisierte 21. Jahrhundert: mit Meisterwerken von Shakespearescher Wucht.