
Eine Anekdote sagt manchmal mehr als 1000 Bilder. Kurz vor seinem Tod 1991 war Miles Davis beim alljährlichen Bürgerempfang des US-Präsidenten eingeladen, damals George Bush. Dessen Frau Barbara, bekannt für ihr patentes und etwas schlichtes Wesen, gab bei der Begrüßung zu, dass sein Name ihr nichts sagte. Sie fragte ihn: „Was haben Sie im Leben gemacht, Mister Davis?“ Er antwortete: „Ich habe mehrmals die Musik dieses Jahrhunderts revolutioniert. Und was haben Sie getan, Madame?“
Info
Miles Davis –
Birth of the Cool
Regie: Stanley Nelson,
115 Min., USA 2019;
mit: Miles Davis, Betty Davis, Ron Carter, Jimmy Cobb, Stanley Crouch
Vom Dienstleister zum Komponisten
Auf mehr als 100 Schallplatten und in unzähligen Konzerten entwickelte Davis seine Spielweise kontinuierlich weiter – ohne ihn klänge heutige Musik vermutlich völlig anders. Damit veränderte er auch das Selbstverständnis seiner schwarzen Kollegen: Aus Dienstleistern, die das Publikum mit gefällig swingender Unterhaltung versorgten, wurden experimentierfreudige Komponisten und Arrangeure von Werken, deren Komplexität spielend mit Klassik und sonstiger Kunstmusik mithalten konnte.
Offizieller Filmtrailer OmU
Kein Underdog, sondern Zahnarzt-Sohn
Seine Lebensleistung war Davis stets klar; er trat mit entsprechender Grandezza auf. Dieses Selbstverständnis fängt Regisseur Stanley Nelson in seiner Doku kongenial ein: mit einem fulminanten Hexengebräu aus sorgsam aufbereiteten Archiv-Aufnahmen in Bild und Ton, aussagekräftigen Interviews mit Davis‘ Mitstreitern und Vertrauten sowie ausgewählten Zitaten aus seiner 1989 erschienenen Autobiographie. Das von Don Cheadle 2015 gedrehte Biopic „Miles Ahead“ fand leider keinen deutschen Verleih; nun bietet Nelsons Doku endlich Gelegenheit, alle Facetten dieses Jahrhundert-Musikers auf der Leinwand zu erleben.
Davis strafte alle Klischees Lügen. Er war kein Underdog, der um sozialen Aufstieg rang, sondern Sohn eines wohlhabenden Zahnarztes in Illinois; in diesem US-Bundesstaat besaß seine Familie auch eine Farm. Als 18-Jähriger ging er 1944 nach New York, um die renommierte „Juillard School of Music“ zu besuchen, brach das Studium aber bald ab: Es war ihm zu konservativ. Lieber beschäftigte er sich mit Partituren zeitgenössischer Komponisten wie Strawinski, Prokofjew oder Alban Berg – damit wollte er den Jazz anreichern.
Liebesaffäre mit Juliette Greco
Seine ersten Meriten erwarb Davis im Quintett des Saxophonisten Charlie Parker. 1948 gründete er seine eigene Formation und begann eine 20-jährige Zusammenarbeit mit dem Arrangeur Gil Evans – ihre ersten Einspielungen wurden 1957 als „Birth of the Cool“-LP berühmt. 1949 holten ihn Jazzfans nach Paris, wo er als Star gefeiert wurde. Zur freiheitsdurstigen Nachkriegskultur der Existentialisten und Abstrakten Expressionisten lieferte er den passenden Klang; mit der Chansonnière Juliette Greco verband ihn eine längere Affäre.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "It Must Schwing! – The Blue Note Story" - originell bebilderte Doku über das wegweisende Jazz-Label von Eric Feidler
und hier einen Bericht über den Film "Born to be Blue" - eindrucksvolles Biopic über den legendären Jazz-Trompeter Chet Baker von Robert Budreau mit Ethan Hawke
und hier einen Beitrag über den Film "Django – Ein Leben für die Musik" - Spielfilm über den Jazz-Gitarristen Django Reinhardt von Étienne Comar.
Bronze-Denkmal in Kielce
Das epochale Album „Kind of Blue“ mit dem unverwechselbar sanft gedämpften Klangbild seiner Trompete, das sich seit 1959 mehr als vier Millionen Mal verkauft hat, machte ihn zum Mega-Star des modernen Jazz. Gottlob widersteht Stanley Nelson der Versuchung, Davis‘ weiteren Werdegang Platte für Platte nachzuerzählen; nur die stilistisch wegweisenden wie „Sketches of Spain“ (1960) oder „Bitches Brew“ (1970) werden erwähnt. Stattdessen setzt der Regisseur aus zahllosen Filmschnipseln und sound bites ein kaleidoskopartiges Porträt dieses Ausnahmemusikers zusammen, der sich alle paar Jahre neu erfand – oder auch dementierte.
Dabei unterschlägt die Doku seine problematischen Seiten nicht: Als Bandleader war Davis extrem fordernd und anspruchsvoll. Seine Lebensgefährtinnen behandelte er oft rücksichtslos. In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre versank der an chronischen Krankheiten Leidende im Drogensumpf. Und sein Comeback ab 1980 verdankte er auch seinen Jazz-Versionen eher seichter Pop-Hits von Interpreten wie Cindy Lauper oder Toto. Doch selbst damit gelang es ihm nicht, seinen Rang zu beschädigen: als einer der innovativsten und einflussreichsten Musiker des 20. Jahrhunderts. Diese Doku setzt ihm das verdiente Kino-Denkmal; im polnischen Kielce steht schon ein lebensgroßes aus Bronze.