Elyas M'Barek

Tausend Zeilen

Da fliegen die Preis-Pokale: Juan Romero (Elyas M’Barek) träumt von der finalen Abrechnung mit dem Hochstapler Lars Bogenius (Jonas Nay). Foto: © 2022 Warner Bros. Entertainment Inc.
(Kinostart: 29.9.) Den Leuten erzählen, was sie hören wollen: Damit wurde der Hochstapler Claas Relotius zum Starreporter, bis er 2018 aufflog. Diesen Medienskandal verfilmt Komödien-Mogul Michael Bully Herbig – als klischeelastige Heldenreise, aber mit tiefen Einblicken in Defizite des Medienbetriebs.

Der Einstieg lässt Schlimmes befürchten: Dieser Film orientiere sich an Tatsachen, aber nur zum Teil, heißt es sinngemäß auf einer Texttafel. Manches sei hinzu erfunden worden: „Ganz ehrlich!“. Dann erklärt Juan Romero (Elyas M’Barek) im Stil eines Youtube-Tutorials, was anspruchsvoller Magazin-Journalismus ist – quasi als young people’s guide to print media für die Generation Tiktok, die Gedrucktes selten bis nie zur Hand nimmt.

 

Info

 

Tausend Zeilen 

 

Regie: Michael Bully Herbig,

90 Min., Deutschland/ Spanien 2022

mit: Elyas M'Barek, Jonas Nay, Michael Maertens

 

Weitere Informationen zum Film

 

Nun folgt ein klassische Heldenreise, wie sie im Handbuch für angehende Drehbuchautoren steht; ihre Grundstruktur hat sich seit dem Gilgamesch-Epos kaum verändert. Romero ist Reporter spanischer Herkunft und freier Mitarbeiter des Hamburger Nachrichtenmagazins, das hier „Chronik“ heißt. Der knuffige Chaot lebt mit seiner Bilderbuchfamilie aus patenter Gattin, die foodporn für social media-Kanäle ablichtet, und vier quirligen Töchtern in einer sonnendurchfluteten Altbauwohnung – vermutlich in Berlin, Prenzlauer Berg.

 

Lesestoff, der süchtig macht

 

Bei seinem Auftraggeber ist Romero nicht sonderlich gut angeschrieben; ihm und den übrigen Kollegen stiehlt Lars Bogenius (schön schnöselig: Jonas Nay) die Show. Der anämische Schlacks wohnt allein in einem kahlen Stahl-Glas-Loft, trinkt nur Wasser oder Tee, lobt großzügig oder drückt auf die Tränendrüse – und verfasst Reportagen, für die ihn seine Vorgesetzten lieben. Immer mittendrin und voller saftiger Details, Augen öffnend und zu Herzen gehend; also die Sorte Lesestoff, die süchtig macht. Davon bekommen Medienmacher nie genug.

Offizieller Filmtrailer


 

Titelstory zur US-mexikanischen Grenze

 

Bogenius ist ein Hoffnungsträger für das schlingernde Flagschiff des deutschen Investigativ-Journalismus. Er wird mit Preisen überhäuft; sein Ressortleiter (jovial: Michael Maertens) hätschelt ihn ebenso wie der stellvertretende Chefredakteur (blasiert: Jörg Hartmann). Beide beauftragen ihn mit einer Titelgeschichte über die Zustände an der US-mexikanischen Grenze, die er gemeinsam mit Romero schreiben soll. Dieser begleitet Armutsflüchtlinge nach Norden; Bogenius besucht eine Redneck-Bürgerwehr, die angeblich auf eigene Faust Flüchtlinge an der Grenze aufgreift und zurückschickt.

 

Während Romero und sein Fotograf (Michael Ostrowski) Staub fressen, fällt Bogenius alles ganz leicht. Nach wenigen Tagen hat er fesselnde Szenen mit den selbst ernannten Grenzwächtern zu Papier gebracht; nur dass sie sich nicht fotografieren lassen wollen, verdutzt Romero. Immerhin tritt ihr Anführer unter anderem Namen in einem viel geklickten Youtube-Clip auf.

 

Als erstes danke ich meiner Frau

 

Natürlich stößt Held Romero auf Widerstände. Keiner nimmt seine Zweifel an Ungereimtheiten ernst; seine Chefs träumen lieber von Auflagensteigerung; daheim hängt der Haussegen schief. Doch er lässt nicht locker und fliegt auf eigene Faust zum Bürgerwehr-Boss: Der hat Bogenius nie gesehen oder mit ihm gesprochen. Alles erfunden und erlogen. Endlich erfährt der Held Genugtuung: Bogenius, Ressortleiter und Vize-Chefredakteur werden gefeuert. Der Held wird mit dem „Deutschen Pressepreis“ für seine Rechercheleistung prämiert. Vor wem verbeugt er sich in seiner Dankesrede? Selbstredend vor seiner Frau.

 

Im wirklichen Leben hat Claas Relotius nicht nur den „Spiegel“, sondern ein gutes Dutzend weiterer Abnehmer mit ganz oder teilweise gefälschten Reportagen beliefert. Über seinen Anwalt beharkt er sich mit Romero, der seine Sicht der Affäre 2019 im Buch „Tausend Zeilen Lüge“ darstellte; es diente als Vorlage für diesen Film.

 

Selbstdiagnose Wahnsinn

 

2021 gab Relotius dem Schweizer Magazin „Reportagen“ ein langes Interview mit einer gewundenen Erklärung für sein Verhalten: Er leide seit vielen Jahren an psychotischen Schüben, die er mit manischem Schreiben bekämpft habe, um Kontakt zur Realität zu halten. Gegen die Selbstdiagnose Wahnsinn lässt sich wenig einwenden, höchstens: krankhafter Ehrgeiz und Eitelkeit.

 

Daran wird Michael Bully Herbig kaum leiden: Der Komiker und Regisseur hat im deutschen TV und Kino erreicht, was man erreichen kann. Gelegentlich leistet er sich Ausflüge ins halbernste Fach: etwa mit der Hauptrolle in der Stalinismus-Satire „Hotel Lux“ (2011) von Leander Haußmann über das Moskauer Exil deutscher Kommunisten, das für die meisten zur tödlichen Falle wurde. So sarkastisch ist „Tausend Zeilen“ nicht; hier geht es nur um Rufmord und soziale Hinrichtung.

 

Alle lassen sich Vorurteile bestätigen

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Die Verlegerin" – fesselnder Polit-Thriller über US-Presseaffäre 1970 von Steven Spielberg mit Meryl Streep

 

und hier eine Besprechung des Films "Spotlight"brillanter Medien-Thriller von Tom McCarthy, prämiert mit dem Oscar als bester Film 2016

 

und hier einen Bericht über den Film "Der Moment der Wahrheit - Truth" – Polit- und Medien-Thriller um gefeuerten TV-Moderator von James Vanderbilt mit Cate Blanchett + Robert Redford

 

und hier einen Beitrag über den Film "Hotel Lux" – aberwitzige Stalinismus-Satire von Leander Haußmann mit Michael Bully Herbig.

 

Angelegt als stereotype Heldenreise, bietet der Film aber auch tiefe Einblicke in die Oberklasse des deutschen Journalismus: Anzugträger, die von Verantwortung für die Demokratie schwafeln, während sie einander den nächsten Karrieresprung neiden. Mechanismen zur Qualitätssicherung, die sich mit Kumpelei und kleinen Aufmerksamkeiten leicht aushebeln lassen. Eine unbarmherzige Hackordnung, in der sich jeder selbst der nächste ist – wer nicht die Ellenbogen ausfährt, kommt gar nicht so weit.

 

Sich verschärfender Zeitdruck: Journalisten sollen dauernd originelle Themen ausgraben und geistreich ausformulieren, bei immer mehr Aufgaben und weniger Muße für Recherche. Und vor allem die Erwartungshaltung: mehr vom Gleichen! Kein Mensch kaufe ein Magazin, das ihm zeige, wie ahnungslos er sei, rechtfertigt sich Bogenius nach seiner Enttarnung: Alle wollten sich nur ihre Vorurteile bestätigen lassen – genau das habe er getan.

 

Trilogie der Textfälscher

 

Was diese Sittenkomödie mit handelsüblichen Mitteln vorführt, ohne heutigen Journalismus pauschal zu denunzieren. Das wäre auch verfehlt; schließlich funktionieren dessen Selbstkontroll-Mechanismen gar nicht schlecht. Vor Relotius wurden 1996 der Doku-Filmer Michael Born und 2000 der Promi-Interviewer Tom Kummer als Fälscher bloß- und kaltgestellt. Vollmundige Lügen haben langfristig auch im Medienbetrieb kurze Beine. Bei besonders plastisch geschilderten Einzelheiten und knackigen Aussagen, die keiner nachprüfen kann, darf als Faustregel gelten: Don’t believe the hype!