Streng genommen dürfte über diesen Film keine Kritik erscheinen; zumindest nicht in professionellen Medien. Denn alle, die sie schreiben könnten, sind selbst Journalisten – und damit befangen: Ihr Berufsstand steht in „Spotlight“ derart glänzend da, er wird so heroisch und zugleich realistisch gezeigt, dass sie davon hingerissen sein müssen. Womit das Gebot der Unparteilichkeit verletzt wird.
Info
Spotlight
Regie: Tom McCarthy,
128 Min., USA/ Kanada 2015;
mit: Mark Ruffalo, Michael Keaton, Rachel McAdams
Missbrauch bislang vernachlässigt
2001 wird Marty Baron (Liev Schreiber), der vom „Miami Herald“ in Florida kommt, neuer Chefredakteur der renommierten Regionalzeitung „The Boston Globe“. Ihm fällt eine Kolumne auf, in der von möglichem Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche die Rede ist; bislang ging die Redaktion der Sache nie systematisch nach. Baron setzt „Spotlight“- Ressortleiter Walter Robinson (Michael Keaton) mit seinen Investigativ-Reportern darauf an.
Offizieller Filmtrailer
Artikelserie mit Pulitzer-Preis prämiert
Die Kollegen Mike Rezendes (Mark Ruffalo), Sacha Pfeiffer (Rachel McAdams) und Matt Carroll (Brian D’Arcy James) recherchieren monatelang. Anfang 2002 veröffentlichen sie ihre Ergebnisse: Dutzende Priester haben Kinder sexuell missbraucht, was die Kirchenleitung jahrzehntelang vertuschte. Diese Enthüllungen lösen einen Dammbruch aus; zahllose Betroffene brechen ihr Schweigen.
Bis Jahresende belegt die Zeitung 600 Missbrauchsfälle, in die 70 Priester verwickelt sind; daraufhin wird der Bostoner Kardinal Law aus der Erzdiözese abberufen. 2003 erhält die Redaktion für ihre Artikelserie den Pulitzer-Preis, die höchste US-Auszeichnung für literarische Leistungen. Der scoop hat Folgen, die bis heute nachhallen: Weltweit werden Hunderte von ähnlichen Skandalen aufgedeckt, welche die Kirche zur Entschädigung der Opfer nötigen.
Historischer Bienenfleiß ohne Hektik
Soweit die Tatsachen, die Regisseur Tom McCarthy so unaufgeregt wie präzise darstellt: Alle Protagonisten tragen ihre Klarnamen, und die Redaktionsräume von 2001 wurden originalgetreu nachgebaut. Sie sehen nur 15 Jahre später recht antiquiert aus: Computer mit klobigen Röhren-Bildschirmen, unförmige Mobiltelefone und bergeweise Papier-Stapel.
Noch historischer wirkt aber die Arbeitsweise von Robinson und seinen Leuten: Sie knien sich bienenfleißig, aber ohne jede Hektik in ihre Aufgabe. „Spotlight“ führt lakonisch nüchtern vor, wie Weltklasse-Journalismus entsteht: Indem man in Archiven wühlt, endlose Listen durchforstet, zahllose Leute interviewt und bei Bedarf immer wieder nachhakt.
Journalismus ist Quatschen auf dem Flur
Ein trial and error-System, in dem es kaum auf kühne Eingebungen, aber viel auf Beharrlich- und Genauigkeit ankommt. Die Wahrheit ist eine Stecknadel im Heuhaufen, der entwirrt werden will. Jede Quelle muss überprüft werden; jede sensationelle story zählt nur, wenn sie wasserdicht und notfalls gerichtsfest ist.
Was nur im Team funktioniert: „Journalismus ist Quatschen auf dem Flur“, hat Henri Nannen, Gründer des „Stern“-Magazins, einmal gesagt. Dieses beiläufige brainstorming bringt viel mehr als die heutzutage beschworene Schwarmintelligenz: Ständiger Gedankenaustausch im Taubenschlag einer Tageszeitungs-Redaktion lässt Zusammenhänge deutlich werden, auf die kein Einzelner je gekommen wäre.
Wirksamer als Zensur ist Schere im Kopf
Wozu ein Mindestmaß an Vertrauen nötig ist – und daran fehlt es zunächst. Anfangs stoßen die Reporter auf Misstrauen und Ablehnung. Etwa beim Anwalt Mitchell Garabedian (Stanley Tucci), der einige Opfer vertritt, oder ihrer Selbsthilfegruppe: Sie machten den „Globe“ schon vor Jahren auf die kriminellen Praktiken aufmerksam, doch die Zeitung biss nicht an. Die Ressortleiter scheuten davor zurück, sich mit dem mächtigen Klerus anzulegen: Jeder zweite Bostoner ist katholisch. Wirkungsvoller als jede Pressezensur ist die Schere im Kopf.
Der neue Chefredakteur durchbricht das Schweigekartell: Als Außenstehender ist Baron nicht in den städtischen Klüngel verstrickt. Er kann die Vorstöße des Kardinals kühl parieren und seinen Leuten den Rücken frei halten. Sie graben unter Verschluss gehaltene Dokumente aus, konfrontieren Gesprächspartner mit hässlichen Befunden und brechen durchaus Verkehrs- oder andere Regeln, wenn es sein muss: „Spotlight“ ist auch ein Grundkurs in journalistischem Berufsethos.
Heutige Recherche endet bei Wikipedia oder Google
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Besprechung des Films "True Story - Spiel um Macht" - Psycho-Duell zwischen Verbrecher + Investigativ-Reporter von Rupert Goold mit James Franco
und hier eine Rezension des Films „Die Augen des Engels“ – intelligentes Medien-Psychodrama von Michael Winterbottom mit Daniel Brühl
und hier einen Bericht über den Film "El Club" - beklemmendes Drama über pädophile Priester in Chile von Pablo Larraín, mit Silbernem Bären 2015 prämiert
und hier einen Beitrag über die Ausstellung „ART and PRESS – Kunst. Wahrheit. Wirklichkeit.“ über das drohende Verschwinden der Print-Presse in Berlin + Karlsruhe.
Ähnlich sieht es hierzulande in der Branche aus: In den letzten 15 Jahren haben sich die Zahl fest angestellter Journalisten und die Höhe der Honorare für freie Autoren in etwa halbiert. Wie sich das auf ihre Arbeitsmoral auswirkt, kann man sich ausrechnen; zumal rasante Konzentrationsprozesse die Presselandschaft veröden lassen. Eingespielte Redaktionen werden von digitalen Textknechten abgelöst, die in heimischer Isolation ihre Manuskripte per copy & paste zusammenschustern. Für sie bedeutet Recherche meist, bei Wikipedia oder Google News abzukupfern.
Auf zum Zeitungskiosk!
Was dadurch verloren zu gehen droht, lässt sich in „Spotlight“ noch einmal in voller Blüte bewundern: geballte Geistesgegenwart, die jenseits aller Fachidiotie verschiedenste Ideen aufgreift und miteinander verknüpft. Und mit detektivischem Jagdfieber unzählige Belege auftreibt und wie Puzzleteile aneinander legt, bis ein full picture entsteht.
Solcher Journalismus lässt nicht nur wohlfeile Empörung folgenlos auflodern, sondern verändert die Welt: Indem er die Verantwortlichen zwingt, sich dem Druck der öffentlichen Meinung zu beugen. Das vermögen kaum die elektronischen Medien, in denen sich fast alles folgenlos versendet – nur die gedruckte Presse mit ihrem Qualitätsanspruch, Platz und ihrer Ausdauer. Und jetzt los zum Zeitungskiosk, dann ins Kino!