
Dieser Mordfall hatte alles, was eine sensationelle story braucht: Eine schöne US-Studentin im Ausland als Opfer, drei andere Studenten als mögliche Täter – und kein plausibles Motiv. Da ließ sich trefflich spekulieren, was die internationale Boulevard-Presse ausgiebig tat. Sie schlachtete das Verbrechen jahrelang aus.
Info
Die Augen des Engels
Regie: Michael Winterbottom,
103 Min., Italien/ Großbritannien 2014;
mit: Daniel Brühl, Kate Beckinsale, Cara Delevingne
Stimmengewirr der blogger
Über jeden Schritt wird ausführlich berichtet: Nicht nur in Perugia, wo jeder Verhandlungstag Scharen von Reportern anzieht, sondern auch im cyberspace. Unzählige Beobachter und blogger, die nie vor Ort waren, kommentieren jedes Detail und überbieten einander in gewagten Deutungen. Das Internet wird zum Schauplatz multimedialer Leichenfledderei.
Offizieller Filmtrailer
Quick and dirty-Methode funktioniert
Von diesem Spektakel handelt „Die Augen des Engels“. Unter den gegenwärtigen Filmemachern ist der Brite Michael Winterbottom wohl derjenige, dessen Arbeitsweise der eines Journalisten am nächsten kommt: Er greift gern aktuelle Themen auf, die er fix fiktionalisiert – was ihm mal besser, mal weniger gelingt. Diesmal funktioniert seine quick and dirty-Methode ausgezeichnet.
Winterbottom verlegt die Handlung nach Siena und tauft die Beteiligten um, folgt aber ansonsten weitgehend dem tatsächlichen Verlauf. Hauptfigur ist der junge deutsche Regisseur Thomas Lang (Daniel Brühl); er soll angeblich kein alter ego von Winterbottom sein. Nach frühen Erfolgen steckt Lang in einer Krise; seine Frau hat ihn mit dem Kind verlassen, und er kokst zuviel. Mit einem Drehbuch über die Kriminalsache will er wieder Tritt fassen.
Staatsanwalt unterstellt Satanismus
Dazu schließt er sich der US-Journalistin Simone Ford (Kate Beckinsale) an, die ein Buch über den Fall verfasst hat; ihr reales Vorbild heißt Barbie Latza Nadeau, die „Angel Face“ schrieb. Ford führt Lang in ihren Kollegen-Kreis ein, der sich auf Amanda Knox – pardon: Jessica Fuller – eingeschossen hat. Die lebenslustige Studentin wird von der yellow press zum verruchten Vamp stilisiert; der Staatsanwalt unterstellt ihr gar „dämonische“ Absichten und „satanische“ Praktiken.
Hintergrund
Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.
Lesen Sie hier ein Interview mit Michael Winterbottom über "Die Augen des Engels"
und hier eine Besprechung des Films “The Look of Love” – stilvoll elegantes Playboy-Biopic von Michael Winterbottom
und hier einen Bericht über den Film "A Most Wanted Man" - nüchterner Agenten-Thriller von Anton Corbijn mit Daniel Brühl
und hier einen Beitrag über den Film "Gone Girl – Das perfekte Opfer" - raffinierte Medien-Satire über einen Kriminalfall von David Fincher
und hier eine Rezension über den Film "Nightcrawler – Jede Nacht hat ihren Preis" - brillantes Porträt eines Katastrophen-Paparazzo von Dan Gilroy.
Panische Mikro-Odyssee
Ebenso unfundiert wäre jede Kategorisierung des Films. Er ist kein whodunnit; die im Krimi übliche Tätersuche spielt keine Rolle. Auch kein Justiz-Report: Was Anklage, Verteidigung und Jury vertreten, wird nur am Rande erwähnt. Ebenso wenig eine beißende Medien-Satire: Den hochtourigen Leerlauf aktueller Berichterstattung im Minutentakt registriert Winterbottom präzise, aber neutral. Auch die shit storms im Netz bleiben außen vor.
So paradox es klingt: Dieser Film über lärmende Pressehysterie lässt sich am ehesten als leises Psychodrama charakterisieren. Als subtile Studie über einen von Stress und Erfolgsdruck gebeutelten Medienmenschen, der auf seiner zunehmend panischen Mikro-Odyssee durch die undurchsichtige Kleinstadt und den undurchschaubaren Sachverhalt nicht die fetischisierte Wahrheit findet, sondern womöglich sich selbst.
Stille im Auge des Orkans
Wobei der Regisseur alle Stilmittel des heutigen infotainment ausreizt: furioses Tempo, hektische Schnitte, sound bites zahlreicher Akteure, die jede Menge Spuren auslegen, die Winterbottom genüsslich wieder verwischt – all das macht den Film zum Spiegelbild des breaking news-Gewitters, das er aufs Korn nimmt. Aber am Ende herrscht die Stille im Auge des Orkans, als wäre nichts gewesen: Nach fünf Prozessen wurden die Hauptverdächtigen Knox und Sollecito am 27. März 2015 in letzter Instanz freigesprochen.