
Schlüsselloch-Reportagen sind aus der Mode gekommen, zumindest im Kino. Mag dieses Genre auch feste Sendeplätze im Trash-TV haben, auf die Leinwand kommt es kaum noch – schon gar nicht mit Arthouse-Ansprüchen. Ausnahmen wie „L’Apollonide – Haus der Sünde“ (2011) von Bertrand Bonello über ein Belle-Époque-Freudenhaus um 1900, das nüchterne „Sexarbeiterin“-Porträt (2016) von Sobo Swobodnik oder das gelungene Dokudrama „Pleasure“ (2022) von Ninja Thyberg über die US-Pornobranche bestätigen die Regel.
Info
La Maison – Haus der Lust
Regie: Anissa Bonnefont,
88 Min., Frankreich/ Belgien 2022;
mit: Ana Girardot, Aure Atika, Rossy de Palma
Weitere Informationen zum Film
Internet schadet Rotlichtmilieu
Wohl auch wegen der Fragmentierung und Individualisierung der erotischen Öffentlichkeit im Internet. Mit ein paar Mausklicks kann jede(r) günstig und diskret Masturbationsvorlagen oder Informationen zu schambehafteten Themen aufrufen. Zahllose Profi- und Hobby-Prostituierte locken selbst über einschlägige Webseiten ihre Freier an. Zum Nachteil des herkömmlichen Rotlichtmilieus: Einschlägige Bahnhofsviertel mit schummrigen bis schäbigen Striplokalen und Anmachbars, Zuhältern und Puffmüttern gibt es kaum noch.
Offizieller Filmtrailer
Brüsseler Leidenschaften-Pavillon
Dagegen halten sich hochprofessionell geführte Großraumbordelle und Luxus-Etablissements. Diese Sphäre fasziniert weiterhin: Sonia Rossis Erfahrungsbericht „Fucking Berlin: Studentin und Teilzeit-Hure“ wurde 2008 mit sechsstelliger Auflage zum Bestseller. Allerdings nicht die Verfilmung von 2016; sie geriet so banal und oberflächlich, dass sie auf DVD verramscht wurde. Dagegen hat „La Maison – Haus der Lust“ verdientermaßen einen regulären Kinostart.
Der deutsche Untertitel „Haus der Lust“ suggeriert fälschlich einen schwülen Softporno im 1970er-Jahre-Stil. Der französische Titel „La Maison“ bleibt passend neutral, obwohl die Geschichte in Berlin spielt – in Frankreich sind Bordelle seit 1946 verboten, seit 2016 werden Freier bestraft. Gedreht wurde jedoch in Brüssel. Der dortige „Pavillon des Passions humains“ (Pavillon der menschlichen Leidenschaften), ein neoklassisches Gebäude des berühmten Jugendstil-Architekten Victor Horta von 1897, hat einen kurzen, aber prominenten Auftritt.
Spezifisch weiblicher Blick, floskellos
„La Maison“ basiert auf dem gleichnamigen Buch der französischen Schriftstellerin Emma Becker; in leicht verfremdeter Autofiktion beschreibt sie ihre Erfahrungen als Prostituierte in Berlin. Von ihrer Affäre mit einem verheirateten Mann gelangweilt, geht die Jungautorin (Ana Girardot) anschaffen, um Material für ihr nächstes Buch zu sammeln. Der Neonlicht-Club „Karussell“ ist ihr bald zu seelenlos; sie wechselt in das Etagen-Bordell „La Maison“, das ihr wegen seiner intimen, familiären Atmosphäre zusagt.
Oft ist die Rede vom spezifisch weiblichen Blick nur eine Floskel, doch hier trifft sie zu. Regisseurin Anissa Bonnefont hat zuvor zwei Dokumentationen über einen Modedesigner und eine Fußballspielerin gedreht. In ihrem Spielfilmdebüt konzentriert sie sich ebenso auf die Hauptfigur. Zugleich fängt sie ausgiebig die visuellen Reize der Schauplätze ein, von der plüschigen Bonbonnieren-Spielwiese bis zum düsteren SM-Folterkeller, ohne in Voyeurismus zu verfallen. Inklusive sinnlicher Bettszenen mit reichlich nackter Haut, aber ohne FSK 18.
Basiswissen über Cunnilingus
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Pleasure" – aufschlussreiches Dokudrama über die US-Porno-Branche von Ninja Thyberg
und hier eine Besprechung des Films "Sexarbeiterin" – Doku-Porträt einer Erotik-Masseurin von Sobo Swobodnik
und hier einen Beitrag über den Film "Belle de Jour – Schöne des Tages" – faszinierender Prostitutions-Klassiker von Luis Buñuel mit Catherine Deneuve
und hier einen Bericht über den Film "Einsam Zweisam (Deux moi)" – warmherzige Pariser Großstadt-Romanze von Cédric Klapisch mit Ana Girardot
und hier eine Kritik des Films "Madame Claude" – Porträt der mächtigsten Bordellchefin im Paris der 1960/70er Jahre von Sylvie Verheyde.
Das Spektrum ihrer Kunden ist ebenso breit gefächert. Manche Grobiane glauben, sie könnten einer Prostituierte ihre Würde abkaufen, sie erniedrigen oder gar misshandeln. Doch die Mehrzahl ist pflegeleicht; etwa der junge Vater Mark, dessen Gattin seit der Geburt keine Lust mehr hat. Oder der etwas weltfremde Hermann, dem Emma Basiswissen über Cunnilingus beibringen muss. Oder ein freundlicher Doktor mit Vorliebe für flotte Dreier, der als Gegenleistung schon mal Rezepte für die Pille ausstellt; bei Bedarf beim Hausbesuch.
Lackmustest Liebesbeziehung
Dagegen erinnert ausgerechnet ihre jüngere Schwester sie ständig daran, wie stigmatisiert das horizontale Gewerbe wegen etlicher Fälle von Menschenhandel und Zwangsprostitution weiterhin ist. Und der Barbesitzer Ian (Lucas Englander), den Emma via Tinder kennenlernt; das erste Mal im besagten Pavillon fühlt sich ganz anders an als ihre täglichen Dienstleistungen.
Charmeur Ian gibt sich redlich Mühe, ihren Job zu tolerieren, doch es fällt ihm nicht leicht – und der verliebten Emma ebenso wenig, mit ihrer Verlustangst zurecht zu kommen. Solche Konstellationen sind psychologisch völlig plausibel; sie machen Bonnefonts Bordell-Report so einfühlsam wie ausgewogen, ohne je effekthascherisch zu sein.