Laura Poitras

All the Beauty and the Bloodshed

Nan Goldin bei einer Protestaktion mit P.A.I.N. im Harvard Art Museum. Foto: © 2022 Participant Film, LLC. Courtesy of Participant
(Kinostart: 25.5.) Volle Dröhnung: Nan Goldin wandelte sich von einer Szene-Fotochronistin zur Anti-Pharma-Aktivistin. Regisseurin Laura Poitras packt quasi vier Filme in eine Doku; da bleibt für die einzelnen Themen und Epochen wenig Zeit. Dennoch erhielt sie dafür den Goldenen Löwen 2022.

Ihren Platz in der Kulturgeschichte hat die heute 70-jährige Nan Goldin sicher: als Chronistin des US-Undergrounds der 1970/80er Jahre, in dem sie sich bewegte. Ab Mitte der 1970er fotografierte sie Drag Queens, Subkultur-Größen, LGBTQ-Aktivisten, Künstler, Musiker und Freaks jeder Couleur in ihren WGs, bei Partys, Konzerten, Vernissagen und Clubnächten.

 

Info

 

All the Beauty and the Bloodshed

 

Regie: Laura Poitras,

117 Min., USA 2022;

mit: Nan Goldin, Megan Kapler

 

Weitere Informationen zum Film

 

Mit ihrer Diashow „The Ballad of Sexual Dependency“ („Die Ballade von der sexuellen Abhängigkeit“) aus rund 800 Aufnahmen, die sie je nach Anlass neu zusammenstellte, wurde sie bekannt; 1986 erschien ein Best-of in Buchform. Manche ihrer Porträtfotos sind sorgsam komponiert, die meisten eher flüchtige Schnappschüsse. Was immer man davon halten mag – ohne Goldins mitunter manische Mitknipserei wäre die schillernde No-Wave-Szene voller Paradiesvögel im damaligen New York nie so umfassend in Bildern festgehalten worden.

 

Jahrelang selbst abhängig

 

Seit 2018 widmet sich Goldin einer anderen Aufgabe: dem Kampf gegen verantwortliche Profiteure der Opioid-Krise in den USA – dort sind im letzten Vierteljahrhundert mehr als eine Million Menschen an einer Überdosis gestorben. Häufig begann ihre Drogenkarriere durch schmerzstillende Medikamente wie Oxycodon oder Tramadol, die ihren verschrieben worden waren; später stiegen sie auf illegal gehandelte Substanzen wie Fentanyl um. Nachdem sie jahrelang selbst abhängig gewesen war, gründete Goldin die Gruppe P.A.I.N. („Prescription Addiction Intervention Now“).

Offizieller Filmtrailer


 

Die-ins im Louvre + Guggenheim Museum

 

Zielscheibe war vor allem das Unternehmen „Purdue Pharma“, das der Familie Sackler gehörte: Es hatte ab 1995 sein Schmerzmittel Oxycontin aggressiv beworben und dessen Suchtpotential krass verharmlost. Sehr erfolgreich; zeitweise zählte das Medikament zu den umsatzstärksten der Welt. Zugleich profilierten sich die Sacklers als Philanthropen. Sie spendeten viele Millionen Dollar an Museen; dafür wurden nach ihnen etliche Gebäudeflügel, Anbauten und andere Kultureinrichtungen benannt, wie in den USA üblich. Kunstförderung zur Aufpolierung eines angekratzten Images: Das prangert Goldin mit P.A.I.N. an.

 

In bewegten Bildern festgehalten von Laura Poitras: Sie dokumentiert ausführlich, wie die Gruppe ihre Protestaktionen vorbereitet und durchführt. Es sind spektakuläre Happenings, in denen die Mitglieder etwa im Louvre-Innenhof oder im New Yorker Guggenheim-Museum plötzlich Banner mit Parolen gegen die Sacklers aufhängen, Flugblätter regnen lassen, Pillendosen verstreuen und mit Die-ins den Blutzoll der Drogenschwemme drastisch veranschaulichen. Bloß: Hintergrund-Informationen fehlen.

 

Oscar für „Citizenfour“ 2015

 

Dabei ist die renommierte Dokumentarfilmerin Poitras eigentlich eine Spezialistin für komplexe Probleme. Berühmt wurde sie mit ihrer „Post 9/11-Trilogie“: In „Irak – Mein fremdes Land“ porträtierte sie 2006 einen politisch aktiven Arzt während der Besetzung durch US-Truppen. „Der Eid“ von 2010 begleitete einen früheren Al-Qaida-Terroristen, der sich als Taxifahrer im jemenitischen Aden eine neue Existenz aufbauen wollte. „Citizenfour“ schilderte, wie der whistleblower Edward Snowden aufdeckte, dass westliche Geheimdienste den Datenverkehr weltweit überwachen – dafür erhielt Poitras 2015 einen Oscar.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Citizenfour" – Oscar-prämierte Dokumentation über den Überwachungs-Enthüller Edward Snowden von Laura Poitras

 

und hier eine Besprechung des Films "Blank City" – informative Doku über die No-Wave-Szene im New York der späten 1970er Jahre von Céline Danhier

 

und hier ein Beitrag über den Film "Beautiful Boy" – Familien-Drama über Opioide-Drogensucht von Felix van Groeningen

 

und hier einen Bericht über den Film "Tod den Hippies – Es lebe der Punk!" – Rückblick auf den Zeitgeist Anfang der 1980er Jahre von Oskar Roehler.

 

Auch “All the Beauty and the Bloodshed” ist bereits hoch dekoriert: mit dem Goldenen Löwen der Festspiele in Venedig 2022. Doch im Unterschied zu den Trilogie-Werken mangelt es der neuen Doku an Stringenz und Überzeugungskraft. Im Grunde will Laura Poitras vier Filme in einen packen: erstens eine Biographie von Nan Goldin – sie war bereits mit 14 Jahren aus einem gefühlskalten Elternhaus geflohen, das ihre ältere Schwester Barbara in den Selbstmord getrieben hatte.

 

Erst Szene-Stars, dann AIDS-Opfer

 

Sodann einen Rückblick auf die vibrierende US-Ostküsten-Szene voller hedonistischer und experimentierfreudiger Nonkonformisten, die Goldin ablichtete – während sie zeitweise als Barfrau, Striptease-Tänzerin und Prostituierte arbeitete. Bis ab Mitte der 1980er die AIDS-Epidemie zahllose Opfer forderte; schon damals protestierte die Fotografin gegen ausbleibende Hilfe mit der von ihr 1989 kuratierten Ausstellung „Witness: Against Our Vanishing“, woran die Doku ebenso ausgiebig erinnert – um flugs zur Anti-Sackler-Kampagne von Goldin mit P.A.I.N. überzuleiten.

 

Da bleibt für alle Episoden und Epochen wenig Zeit. Zudem wechselt Poitras rasch zwischen den Themen und Jahrzehnten hin und her, während Goldin allerlei Stationen, Freundschaften und sonstige Erinnerungen ausbreitet. Für Fans der Fotografin, die Vorkenntnisse mitbringen, mag dieser Bilderbogen eine willkommene Hommage sein. Wer hingegen mehr über das fatale Zusammenwirken aus Pharma-Lobbyismus und Behörden-Versagen wissen will, das die derzeitige US-Drogenkatastrophe ausgelöst hat, erfährt aus Poitras’ Doku wenig.