Sepideh Farsi

Die Sirene

Abadan wird von irakischen Truppen belagert. Foto: Grandfilm
(Kinostart: 30.11.) Schiffs-Flucht in den Persischen Golf: Während des Irak-Iran-Kriegs 1980 will ein Junge aus der belagerten Öl-Hafenstadt Abadan entkommen. Das erzählt die exiliranische Regisseurin Sepideh Farsi als Animationsfilm – farbensatter Minimalismus macht grausiges Geschehen erträglich.

Das Blut eines rituell geschlachteten Hahns bespritzt am Anfang das Gesicht eines Kleinkinds. Der Junge namens Omid wird 14 Jahre später wieder Blut im Gesicht haben, diesmal das von Menschen. Dabei hat er sich bis an die Front vorgewagt, um seinen älteren Bruder Abed zu finden. Er wird ihn nicht lebend wiedersehen.

 

Info

 

Die Sirene

 

Regie: Sepideh Farsi,

100 Min., Frankreich/ Deutschland/ Luxemburg/ Belgien 2023

 

Weitere Informationen zum Film

 

Der Animationsfilm „Die Sirene“ spielt zu Beginn des ersten Golfkriegs ab 1980 zwischen dem Irak und dem Iran. Der Sturz des Shahs 1979 hatte im Iran innere Unruhen ausgelöst. Diese Schwäche des Nachbarlands suchte der irakische Diktator Sadam Hussein auszunutzen, indem er iranische Westprovinzen erobern und somit Bagdad die Vorherrschaft am Persischen Golf verschaffen wollte. Umgekehrt versuchte das Mullah-Regime in Teheran, die Schiiten im Irak aufzuwiegeln und seine islamische Revolution zu exportieren.

 

Bis zu einer Million Opfer für nichts

 

Im September 1980 griff die irakische Armee auf breiter Front an. Bei wechselhaftem Verlauf kämpften beide Seiten sehr erbarmungslos; so setzte Teheran etwa 95.000 Kindersoldaten ein, die unbewaffnet über Minenfelder laufen mussten. 1988 endete der Krieg mit einem Waffenstillstand ohne Grenzveränderungen; dafür waren zwischen einer halben und einer Million Menschen gestorben.

Offizieller Filmtrailer


 

Weltgrößte Erdöl-Raffinierie 1938

 

Diesen Kontext setzt Regisseurin Sepideh Farsi, die aus dem Iran stammt und in Frankreich lebt, als bekannt voraus. Statt einer Einführung wird das Publikum mitten ins Geschehen geworfen: Einige Jungs kicken in der südiranischen Grenzstadt Abadan, als plötzlich Raketen einschlagen und ein Feuerball über der nahegelegenen Raffinerie aufsteigt. Dieser ersten apokalyptischen Szene werden weitere folgen.

 

Abadan ist die Öl-Metropole des Iran; hier wird das in der Region geförderte Rohöl aufbereitet und verschifft. Die von Briten ab 1909 auf- und immer weiter ausgebaute Raffinerie war 1938 die größte der Welt. Ab Ausbruch des Golfkriegs wurde die Stadt zwei Jahre lang von irakischen Truppen belagert, bis sie 1982 von iranischen Kräften vertrieben wurden.

 

Kollektive Motor-Reparatur

 

Doch der Film spielt während der Belagerung. Omids Bruder Abed schließt sich den Soldaten an, seine Mutter flieht mit zwei jüngeren Geschwistern aus der Stadt. Dagegen bleibt der Junge lieber bei seinem Großvater, dem Palmenhain der Familie und seinem geliebten Kampfhahn. Nach einem kurzen und traumatischen Front-Ausflug kümmert sich Omid darum, die Bewohner mit Lebensmitteln zu versorgen.

 

Als die Lage immer verzweifelter wird, fasst Omid einen kühnen Rettungsplan: Sein vor Jahren auf See verschollener Vater hat ihm ein traditionelles Lenj-Schiff hinterlassen. Mit ihm will Omid über den Grenzfluss Schatt al-Arab in den Persischen Golf entkommen. Doch der Motor des Schiffs ist kaputt; um es wieder flott zu bekommen, benötigt Omid die Unterstützung der verbliebenen Einwohner.

 

Stilisierung thematisiert Unerträgliches

 

Diese Rettungsaktion dient als Hoffnungsschimmer des Filmes; das gemeinsame Ziel schweißt Menschen trotz großer Unterschiede zusammen. Anstatt sich fatalistischer Resignation hinzugeben, hält Omid an seiner Motivation zum Handeln fest. Dabei wird das schaurige Setting erträglich, weil es grafisch verfremdet wird; gerade dank der schlicht-minimalistischen Ästhetik entsteht der nötige Abstand zum grausamen Geschehen.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Teheran Tabu" – iranisches Gesellschafts-Panorama als Animationsfilm von Ali Soozandeh

 

und hier eine Besprechung des Films "Memories on Stone – Bîranînên li ser kevirî" – raffinierter Meta-Film über Filmemachen in Kurdistan von Shawkat Amin Korki

 

und hier einen Bericht über den Film “Wie der Wind sich hebt” – grandioser Animations-Historienfilm über die Zwischenkriegszeit in Japan von Hayao Miyazaki

 

und hier einen Beitrag über den Film "Die Odyssee" – einzigartiger Animationsfilm aus Einzelbildern mit Glasmalerei von Florence Miailhe.

 

Animationsfilme bieten mehr als bunte Unterhaltung: Ihre künstlerische Stilisierung erlaubt, Vorgänge zu thematisieren, die in Realbildern kaum auszuhalten wären. Damit steht „Die Sirene“ in der Tradition von Vorgängern wie „Waltz with Bashir“ (2008) über die erste israelische Invasion im Libanon, „Wie der Wind sich hebt“ (2014) über Japan in der Zwischenkriegszeit oder „Die Odyssee“ (2021) über die traumatische Flucht zweier Geschwister.

 

Naive Figuren, realistische Zerstörung

 

Zudem greifen gerade iranische Filmemacher im Exil häufig auf das Animationsgenre zurück, weil für sie Dreharbeiten an Originalschauplätzen ausgeschlossen sind. Ein internationaler Überraschungserfolg wurde „Persepolis“ (2007) von Marjane Satrapi über ihre Jugend unter dem Mullah-Regime. Zehn Jahre später beleuchtete Regisseur Ali Soozandeh in „Teheran Tabu“ die widersprüchliche Situation junger Menschen in Teheran.

 

Auch Sepideh Farsi verwendet bei ihrem siebten Spielfilm erstmals computeranimierte Bilder, um ihre Geschichte zu erzählen. In ihr dominieren Erdtöne sowie intensives Blau und Rot. Figuren wirken eher naiv und kindlich, während Hintergründe und Kriegsszenen realistisch anmuten; mit eindringlichen Bildern von Zerstörung, Verletzten und Toten. Dazwischen eingestreut sind Passagen, in denen Omid vom Leben ohne Krieg und religiöse Vorschriften träumt – wie die Teilnehmer der jüngsten Massenproteste im Iran.