
Home is where the heart is – doch wahrscheinlich ist Sesshaftigkeit in the long run mehr Illusion als Normalzustand. Denn die Menschheit bleibt seit ihren Anfängen stets in Bewegung. Seltener aus Neugier, was wohl hinter dem Horizont liegen mag; viel häufiger auf der Suche nach Nahrungsquellen oder einem Ort, wo man in Frieden leben kann – bis der nächste Konflikt oder eine Naturkatastrophe zum Weiterziehen nötigt.
Info
Die Odyssee
Regie: Florence Miailhe,
84 Min., Frankreich/ Deutschland/ Tschechien 2021;
gesprochen von Hanna Schygulla
Weitere Informationen zum Film
Vom Menschenhändler verkauft
Bei einer Razzia werden sie von der übrigen Familie getrennt; danach müssen sich Kyona und Adriel auf eigene Faust durchschlagen. Sie landen bei einer Bande von Straßenkindern; später werden sie von einem Menschenhändler an ein reiches, kinderloses Paar verkauft. Dort sind die Geschwister zwar materiell versorgt, müssen aber ihre alten Identitäten ablegen, um ihre neuen Stiefeltern zufrieden zu stellen.
Offizieller Filmtrailer
Mein Herz wird zum Sieb
Bald fliehen beide aus diesem goldenen Käfig, verirren sich aber im eisigen Winterwald. Ein pittoresker Wanderzirkus und ein grausam hartes Gefangenenlager sind weitere Stationen. Es wird noch lange dauern, bis das Duo Sicherheit findet. Ihre unfreiwillige Reise wird zur Kette von Abschieden und Neuanfängen. „Mein Herz ist zu einem Sieb geworden, ständig verliere ich Menschen auf dem Weg,“ kommentiert Kyona mit poetischer Klarsicht.
„Die Odyssee“ wird aus der Rückschau erzählt. Als roter Faden dient Kyonas Skizzenbuch, in dem sie Menschen und Landschaften festhält; sie rettet es als einzige materielle Verbindung zu ihrem alten Leben. Dagegen sind die Zeit und wechselnden Orte bewusst vage gehalten. Es gibt Züge, Autos und Gewehre, aber weder Mobiltelefone noch reale Landkarten. Die Protagonisten bilden eine bunt zusammengewürfelte Schar aus aller Herren Länder. Das verdeutlicht: Diese Geschichte kann überall und jederzeit geschehen.
Im Frühlings-Bad zur Frau werden
Emotionale Härten werden durch eine kräftige Dosis von magischem Realismus abgefangen. So verbringt Kyona einen Winter in einem verwunschenen Wald bei einer Frau, die an eine Hexe erinnert. Beim ersten Frühlings-Bad im Teich wird aus dem Mädchen plötzlich eine junge Frau. Zuvor haben sich Straßenkinder in Raben verwandelt, wenn sie auf Beutezug gehen. Überhaupt spielen Vögel als Symbole für Freiheit eine herausgehobene Rolle im Film.
Hintergrund
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Inspiriert durch Odessa-Flucht 1905
Die Konturen der Figuren sind klar, ihre Gesichtszüge einfach, Primärfarben dominieren. Sobald die Bilder animiert werden, fließen sie oft ineinander. Die französische Künstlerin Florence Miailhe hat dafür eine spezielle Technik verwendet: Sie malt mit Ölfarben auf Glas. Dabei werden die Motive Einzelbild für Einzelbild auf mehreren Glasschichten direkt unter der Kamera ausgeführt. Dieses äußerst aufwendige Verfahren liefert einzigartige Ergebnisse, die sich wohltuend vom computergenerierten Einerlei kommerzieller Animationsfilme abheben.
Inspiriert wurde die Regisseurin von den Erlebnissen ihrer Urgroßeltern, die 1905 mit vielen Kindern vor antijüdischen Progromen aus Odessa flohen. Dass derzeit wieder Menschen aus der Schwarzmeerstadt fliehen müssen, erscheint wie eine grausame Wiederholung dieser Tragödie. Dieser Film macht sie auch für diejenigen nachvollziehbar, die in Sicherheit leben.