
Der vielleicht schönste Film übers Filmemachen ist schon ein halbes Jahrhundert alt. Seine Schaffenskrise nach dem Welterfolg von „La dolce vita“ verarbeitete Frederico Fellini 1963 in „8 ½“: Die Produktion ist schon angelaufen, doch seinem alter ego-Regisseur fällt nichts ein. Was schief gehen kann, geht schief; er flüchtet sich in Tagträume. Alles bricht auseinander – und endet in einem zauberischen Reigen tanzender Figuren: „Das Leben ist ein Fest“.
Info
Memories on Stone -
Bîranînên li ser kevirî
Regie: Shawkat Amin Korki,
97 Min., Irak/ Deutschland 2014;
mit: Hussein Hassan, Nazmi Kırık, Shima Molaei
Kino-Träume in Autonomer Region
Umso mehr überrascht dieser Film übers Filmemachen – bzw. dessen Unmöglichkeit – aus einer Weltgegend, in der man derlei kaum erwarten würde: aus der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak. Seit dem Sturz von Diktator Saddam Hussein 2003 sind die irakischen Kurden nahezu unabhängig; ihre Peshmerga-Streitkräfte kämpfen erfolgreich gegen den „Islamischen Staat“. Doch eine lokale Filmindustrie gibt es natürlich nicht – nur Enthusiasten, die unbeirrbar ihren Kino-Träumen nachjagen.
Offizieller Filmtrailer OmU
Zerbrochene MG vor Kamera als Logo
Wie Regisseur Hussein (Hussein Hassan) und sein Jugendfreund Alan (Nazmi Kırık): Mit ihrer Produktionsfirma „Kurdistan Action“ – ihr Logo: eine zerbrochene MG vor Schmalfilmkamera – wollen sie einen Film über die „Anfal-Operationen“ drehen. Unter dieser Bezeichnung entfesselte Diktator Saddam 1988/89 als Racheaktion einen Völkermord an den Kurden, da sie während des Irak-Iran-Kriegs von 1980 bis 1988 Verbündete Teherans gewesen waren. Rund 4000 Dörfer wurden durch Giftgas-Angriffe und Bombardierung zerstört; dabei starben 100.000 bis 180.000 Menschen.
Den Opfern zum Gedenken plant „Kurdistan Action“ ein klassisches Heldenepos: mit ruhmreichen Kämpfern, aufopferungsvollen Gattinnen und erschütternden Massenszenen von Verfolgung und Widerstand. Eine Herzenssache für alle kurdischen Patrioten, die jeder nach Kräften unterstützen werde, sollte man meinen. Weit gefehlt: In dieser traditionalistischen Gesellschaft sind junge Männer in Jeans, die mit merkwürdigen Geräten hantieren, per se verdächtig.
Erst Verlobung, dann Hauptrolle
Beim casting sagt die erste Aspirantin für die weibliche Hauptrolle ab: Ihre Familie lässt sie nicht aus dem Haus. Ersatzkandidatinnen aus dem iranischen Teil Kurdistans weigern sich, ohne Kopftuch zu spielen: Barhäuptig bekämen sie daheim Schwierigkeiten. Da meldet sich eine Überzeugungstäterin: Sinur (Shima Molaei), Lehrerin an einer Blindenschule.
Sie will durch ihre Mitwirkung ihren Vater ehren – er starb bei der Anfal-Kampagne. In jener monströsen Haftanstalt-Festung, in der sich nun die crew eingerichtet hat und ein Großteil des Films entstehen soll. Doch ihr Onkel lehnt das strikt ab: Die schöne Sinur ist ledig und werde den Ruf ihrer ganzen Familie ruinieren. Also verlobt sie sich flugs mit ihrem cousin Hiwa: Er bespitzelt fortan eifersüchtig den set, ob dort auch alles jederzeit sittsam zugeht.
Ausrüstung auf Eseln einschmuggeln
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Der Junge Siyar" - Ehrenmord-Roadmovie über irakischen Kurden von Hisham Zaman
und hier einen Bericht über den Film “My Sweet Pepper Land” – origineller Western in Kurdistan von Hiner Saleem
und hier einen Beitrag über den Film „Jahreszeit des Nashorns – Gergedan Mevsimi“ – eindrucksvolles iranisch-kurdisches Exilanten-Drama von Bahman Ghobadi
und hier einen Bericht über den Film „Welcome to Karastan“ – Culture-Clash-Komödie über Filmemachen in Mittelasien von Ben Hopkins
und hier eine Besprechung des Films „Babamin Sesi – Die Stimme meines Vaters“ – Familienporträt kurdischer Aleviten in der Türkei von Orhan Eskiköy + Zeynal Doğan.
Als die Dreharbeiten endlich anfangen, kommen auch die Probleme in Fahrt. Sinurs Verwandtschaft nervt ebenso wie die Technik: Empfindliches high tech equipment muss auf Eselsrücken über die iranische Grenze geschmuggelt werden. Erstaunlich, wie kreativ der Kette rauchende Regisseur Hussein trotz aller Widrigkeiten bleibt: Seine Film-im-Film-Szenen würden jeden westlichen Historienfilm schmücken. Die Uraufführung wird er jedoch im Rollstuhl, sein Produzent Alan ohne Haus erleben.
Kein Wort mehr von „Ehre“, bitte!
„Memories on Stone“ ist der dritte Spielfilm von Regisseur Shawkat Amin Korki – in acht Jahren. Wie viele eigene Erfahrungen ins Drehbuch eingeflossen sind, kann man sich vorstellen. Gespickt mit rabenschwarzem Humor, nutzt Korki sein Quasi-Selbstporträt als Aufhänger für die Abrechnung mit einer Kultur in selbst verschuldeter Stagnation; sein schonungsloser Befund gilt gleichermaßen für weite Teile der Dritten Welt.
Alle Akteure bevölkern nicht nur ein reales Drehort-Gefängnis, das wie ein steinerner Irrgarten wirkt, sondern auch ein mentales: aus tausend Vorschriften und Regeln, die unumstößlich sind. Dafür sorgt rigide Sozialkontrolle, die jede Individualität und Eigeninitiative behindert oder unterdrückt.
Überwacht von weißhaarigen Clan-Chefs, die palavernd an ihren Teegläsern nippen, sich jede Entscheidung vorbehalten – und alles unterbinden, was ihr Pascha-Patriarchat eventuell infrage stellen könnte. Nach diesem Film kann man das Wort „Ehre“ nicht mehr hören.