Lea Najjar

Kash Kash

Hassan mit seinen Tauben auf dem Dach in Beirut. Foto: © Camino Filmverleih
(Kinostart: 7.12.) Über den Dächern muss die Freiheit wohl grenzenlos sein: Die exillibanesische Regisseurin Lea Najjar beobachtet das Treiben von Taubenzüchtern in Beirut. Reizende Aufnahmen des Federviehs dürften Vogelfreunde entzücken – ansonsten hebt diese Doku nicht vom Boden ab.

Taubenzucht gilt hierzulande als Hobby des kleinen Mannes. Das scheint im Libanon nicht anders zu sein. Die drei Protagonisten von „Kash Kash“ gehören offenbar zur armen schiitischen Unterschicht von Beirut; jedenfalls gehen sie wenig einträglichen Beschäftigungen nach. Hassan liefert Gasflaschen aus, Radwan betreibt einen Ein-Raum-„Barbershop“, in dem er Bärte stutzt und Schädel rasiert, und Abu Mustafa ist Fischer. Doch seine tägliche Bootsfahrt hinaus aufs Meer bringt kaum etwas ein.

 

Info

 

Kash Kash

 

Regie: Lea Najjar,

90 Min., Libanon/ Deutschland 2023;

mit: Hassan, Radwan, Abu Mustafa

 

Weitere Informationen zum Film

 

Die drei Männer haben eines gemeinsam: ihre Leidenschaft für Tauben. Wann immer er Zeit hat, steigt Hassan aufs Dach seines Wohnblocks und kümmert sich um seine gefiederten Lieblinge. Schon als Neunjähriger habe er dafür die Schule geschwänzt, erzählt er. Ähnliches berichtet Radwan: Er werde sein Leben lang Tauben aufziehen. Das macht auch Abu Mustafa seit 40 Jahren, wobei er sich über Leute mokiert, welche die Sorge um ihre Vögel zu weit trieben; es seien schließlich nur Tiere.

 

Wettkampf der Taubenschwärme

 

Aber Tiere, mit denen man Wettkämpfe ausrichten kann. Beim „Kash Hamam“ lassen Züchter ihre Tauben aufsteigen, so dass sich die Schwärme vermischen. Jeder Mitspieler hofft, dass die Vögel am Ende auf seinem Dach landen werden; sind Tauben der Gegner dabei, darf er sie behalten. Je stärker die eigenen Tauben seien, desto wahrscheinlicher würden sie andere Vögel in den heimischen Taubenschlag locken, erklärt Hassan. Zu sehen ist das jedoch nicht.

Offizieller Filmtrailer OmU


 

Beschuss mit Zitrusfrüchten

 

Was hingegen zu sehen ist: Gurrendes Federvieh, das herumtrippelt, pickt und losflattert. Aufsteigende Taubenscharen, die gen Himmel fliegen und dort kreisen – von oben nach unten, von links nach rechts, dann wieder andersherum. Züchter, die unentwegt hinauf spähen und einander zurufen: Schau mal, was diese Taube macht! Wo ist bloß jene geblieben? Heute gewinne ich bestimmt, ich mache alle anderen fertig! Was Kerle im Wettkampfrausch eben so von sich geben.

 

Manchmal schleudern sie, Kugelstoßern gleich, mit Drehbewegungen Orangen oder Mandarinen in die Luft; das soll die Vögel dazu bringen, höher zu fliegen, heißt es. Ob dieser Zitrusfrüchte-Beschuss seinen Zweck erreicht, bleibt unsichtbar; ebenso, ob und wie die Teilnehmer ihre Duelle gewinnen oder verlieren. Nur einmal verstreut ein Mann auf einem Nachbardach verächtlich Federn, nachdem er wohl zuvor einer Taube den Hals herumgedreht hat, während Hassan betreten dreinblickt. Er wird bald beim Vogelhändler Nachschub besorgen müssen.

 

Taubenzucht ist Männersache

 

Es ist beachtlich, wie viele verschiedene Ansichten Regisseurin Lea Najjar ihren flüchtigen Akteuren abringen kann: Tauben allein, zu zweit und in Scharen. Ihre Augen, Federn und Flügel in Großaufnahmen. Gestandene Männer, die ihre Schützlinge füttern, streicheln und liebkosen; Hassan „küsst“ sie sogar , indem er sie mit ihren Schnäbeln Körner von seiner Zunge picken lässt. Auch das kleine Mädchen Aisha pflegt seine Vögel liebevoll, obwohl sie ermahnt wird: Taubenzucht ist Männersache.

 

Vermutlich verweilt die Kamera so lange auf den Dächern, weil es sonst wenig zu schildern gibt. Nach ihren Ansichten befragt, frönen alle drei Männer unisono dem libanesischen Nationalsport: den unabwendbaren Untergang des Landes beklagen, an dem die korrupte Politiker-Kaste schuld sei. Alles wird teurer, hier kann man nicht mehr leben, jeder will schleunigst nach Europa auswandern. Wann steht endlich das Volk auf und jagt die Bastarde an der Macht davon?

 

Bombe zündet Viertelstunde vor Schluss

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Tel Aviv – Beirut" – epische Familiengeschichte zwischen Israel + Libanon von Michale Boganim

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Beirut and the Golden Sixties: A Manifesto of Fragility" – großartiger Epochenüberblick über den Libanon in den 1960er Jahren im Martin Gropius Bau, Berlin

 

und hier eine Besprechung des Film "Capernaum – Stadt der Hoffnung" – berührendes Porträt von Kindern im Beiruter Armenviertel von Nadine Labaki

 

und hier einen Bericht über den Film "Vogelperspektiven" – Doku über die Arbeit von Ornithologen und Vogelschützern von Jörg Adolph.

 

Diese Wutbürger-Litanei wird in zahlreichen Varianten vorgetragen. Die Ursachen für die Dauermisere – Zersplitterung der Gesellschaft in verfeindete Religionsgemeinschaften, Selbstblockade durch ein überholtes Proporzsystem, Staatsbankrott und Kursverfall der Währung – kommen aber nicht zur Sprache. Möglicherweise setzt die libanesischstämmige Regisseurin all das als bekannt voraus; daher bleibt ihr nur ein langatmiges Vogelfreunde-Porträt.

 

Bis sie 15 Minuten vor Schluss eine Bombe zündet: mit Handy-Aufnahmen von der Explosion im Beiruter Hafen am 4. August 2020. Die Detonation eines Silos mit knapp 3000 Tonnen Ammoniumnitrat soll die gewaltigste gewesen sein, die je in Friedenszeiten von Menschenhand verursacht wurde. Durch die Druckwelle starben mehr als 200 Menschen, rund 6500 wurden verletzt. Mehr als 300.000 Bewohner mussten zumindest zeitweise ihre (teil-)zerstörten Häuser verlassen.

 

Freiheitssehnsucht aus Ameisenperspektive

 

Über Ursachen und Folgen der Katastrophe schweigt der Film. Stattdessen zeigt er Archivbilder so gewalttätiger wie ohnmächtiger Proteste, unterlegt mit wütenden Klagen über die korrupte Politiker-Kaste, die an allem schuld… siehe oben. Sollte Regisseurin Najjar beabsichtigt haben, die ignorante Ameisenperspektive von Beiruter Proletariern vorzuführen, ist ihr das gelungen. Deren gebanntes Starren auf Taubenschwärme am Firmament symbolisiert natürlich ihre Sehnsucht nach Freiheit, die hienieden unerreichbar scheint. Doch diese Doku über sie bleibt bleischwer am Boden kleben.