Michale Boganim

Tel Aviv – Beirut

Tanya (Zalfa Seurat, li.) und Myriam (Sarah Adler) begeben sich zusammen auf eine Reise. Foto: © Neue Visionen Filmverleih
(Kinostart: 14.9.) Früher fuhren Züge zwischen beiden Städten: 22 Jahre lang folgt Regisseurin Michale Boganim dem Werdegang zweier Familien aus Israel und dem Libanon, deren Geschichten durch Krieg und Verlust verflochten sind. Trotz verschachtelter Handlung berühren Momente der Solidarität und Empathie.

Zwei Frauen fahren mit offenem Verdeck durch ein staubige Landschaft. Diese Eröffnungsszene erinnert an das Road-Movie „Thelma & Louise“ (1991) von Ridley Scott. Doch gleich der erste Satz holt den Film zurück in seine eigene Realität: „Hier war einst eine Bahnlinie“. Vor dem Zweiten Weltkrieg, so erfährt der Zuschauer, gab es eine Zugverbindung zwischen Tel Aviv und Beirut.

 

Info

 

Tel Aviv – Beirut

 

Regie: Michale Boganim,

116 Min., Frankreich/ Deutschland/ Zypern 2023;

mit: Zalfa Seurat, Sarah Adler, Shlomi Elkabetz 

 

Weitere Informationen zum Film

 

Heute verbindet die beiden Städte an der Levante nur noch eine 70 Jahre lange Geschichte von Feindschaft und Krieg. Dass die beiden Frauen von verschiedenen Seiten der Grenze kommen und einander kaum kennen, wird klar, als sie sich darüber austauschen, wie der immer wieder aufflammende Konflikt zwischen Israel und dem Libanon ihrer beider Leben bestimmt hat. Er bildet auch den roten Faden dieses verschachtelten Dramas von Michale Boganim. Die israelisch-französische Regisseurin hat das Drehbuch selbst verfasst; es erstreckt sich über drei Zeiträume innerhalb von 22 Jahren.

 

Zeitsprung in die Kampfzone

 

Zunächst springt die Handlung zurück ins Jahr 1984. Zwei Jahre nach dem ersten Einmarsch Israels in den Südlibanon wird eine christliche Prozession in einem Dorf von israelischen Soldaten mit Gewehren im Anschlag eskortiert. Keine übertriebene, aber eine ineffektive Vorsichtsmaßnahme – wie sich zeigt, als plötzlich ringsherum Bomben einschlagen. Die Gläubigen können sich gerade noch in eine Kirche retten.

Offizieller Filmtrailer


 

Kontraste eines Krieges

 

Regisseurin Boganim arbeitet immer wieder mit derartigen Kontrasten und Bildern, die beiläufig in Szene gesetzt erscheinen und dennoch plakativ wirken: idyllische Momente, in die Gewalt einbricht; Menschen, die ihren Alltag leben und plötzlich gezwungen sind, Akteure in einem Konflikt zu sein. Wiederholt kommt es dabei zu einer Gegenüberstellung von männlicher Hartleibigkeit und einer weiblichen Bereitschaft zu Fürsorge und Solidarität.

 

Das kleine Mädchen Tanya hat mit einem Holzkreuz die Prozession angeführt. Kurz darauf rettet ein israelischer Soldat ihr Leben, während in ihrem Viertel ein Häuserkampf tobt. Der junge Yossi (Amit Shushani) wird von Tanyas Angehörigen fortan wie ein eigener Sohn behandelt. Anders als viele ihrer Nachbarn betrachtet diese Familie die israelische Präsenz in ihrem Land als positiv. Tanyas Vater Fouad (Younes Bouab) ist Kämpfer in einer christlichen Miliz, die von Israel unterstützt wird und sich der schiitisch-islamistischen Hisbollah entgegenstellt.

 

Zwei Familien

 

Trotz dieser komplizierten Ausgangslage erhellt Regisseurin Michale Boganim kaum die historischen Hintergründe. Dabei wären Erläuterungen, die über eher kursorische Andeutungen hinausgehen, zumindest für ein ortsunkundiges Publikum willkommen. Dennoch sind die Wechselfälle, die sich aus der komplizierten Konstellation für die Figuren ergeben, durchaus berührend. Ihren folgt man man Interesse und Empathie – gerade, weil auch bei privaten Tragödien nicht auf die Tränendrüse gedrückt wird. Selbst hochemotionale Situationen schildert das Drama auf eine beiläufige, fast spröde Weise.

 

Über alle Zeitebenen hinweg blickt die Regisseurin aus der Perspektive ihrer Frauenfiguren auf das Geschehen. So herzlich etwa Yossis Umgang mit Fouads Familie auch ist: Seine eigene Familie vernachlässigt er. Seine Frau Myriam (Talia Maidenberg), die ihm zuliebe aus Frankreich eingewandert ist, steht mit dem neugeborenen Sohn Gil alleine da.

 

Wie der Vater so der Sohn

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Mediterranean Fever" – intelligente schwarze Komödie über zwei israelische Araber von Maha Haj

 

und hier eine Besprechung des Films "Tel Aviv on Fire" – geistreiche Komödie über eine israelisch-palästinensische Seifenoper von Sameh Zaobi

 

und hier einen Beitrag über den Film "Aus nächster Distanz" – Kammerspiel über eine israelisch-libanesische Frauen-Freundschaft von Eran Riklis mit Golshifteh Farahani

 

und hier einen Bericht über den Film "Zaytoun" über eine palästinensisch-israelische Freundschaft im Nahost-Konflikt von Eran Riklis.

 

Weitere Episoden spielen in den Jahren 2000 und 2006. Im Jahr 2000 zog sich die israelische Armee aus dem seit 1978 besetzten Südlibanon zurück. 2006 marschierte sie erneut im Libanon ein, musste aber nach wenigen Wochen erfolglos abziehen. Nach dem ersten Rückzug Israels aus dem Südlibanon, den die Hisbollah als Sieg feiert, müssen Fouad und Tanya (Zalfa Seurat) als Kollaborateure – aus Sicht etlicher libanesischer Mitbürger – in Israel Schutz suchen, wo sie vom Staat allein gelassen und diskriminiert werden. Selbst Medikamente für ihren schwerkranken Vater kann Tanya kaum beschaffen.

 

Auch Yossi fühlt sich nicht in der Pflicht, ihnen zu helfen, zumal gleichfalls in seiner Familie ein Konflikt schwelt. Gegen den erklärten Willen seiner Frau setzt er Gil unter Druck, seinen Militärdienst abzuleisten – was der dank seines französischen Passes gar nicht müsste. Während Yossi einst als junger Soldat selbst nicht wusste, was er im damaligen Libanon-Krieg verloren hatte, haben ihn Jahrzehnte in der Armee hart gemacht: Nun zwängt er seinen Sohn ebenso in die Uniform.

 

Entführter Sohn als Kriegsauslöser
 

2006 löste die Entführung zweier israelischer Soldaten durch die Hisbollah den nächsten Krieg im Südlibanon aus. Unter diesen widrigen Bedingungen kommt es schließlich zur Begegnung zwischen Tanya und Myriam: als die beiden Frauen, die in der Eröffnungsszene nebeneinander im Auto sitzen. Myriam ist auf der Suche nach ihrem Sohn Gil, der mittlerweile als Soldat dient und seit Tagen nicht zu erreichen ist.

 

Dass nun ausgerechnet er sich als einer beiden Entführten herausstellt, lässt die ohnehin etwas überfrachtete Handlung nicht unbedingt plausibler wirken. Trotzdem überzeugt der Film mit eindrücklichen Bildern aus einem endlosen Konflikt – und einem differenzierten Blick auf den Allgemeinplatz, dass ein Krieg nur Verlierer kennt. Hier verlieren vor allem die Frauen jegliche Illusion.