
Es beginnt mit einem so seltsamen wie bedeutungsschwangeren Prolog: In ihm erklärt Waleed (Amer Hlehel) einem Mann, er habe dessen Mutter die Treppe hinunter gestoßen – mit tödlichem Ausgang. Der Sohn, der im Verlauf des Films nicht wieder auftauchen wird, reagiert weder wütend noch traurig. Vielmehr erklärt er Waleed nüchtern, der könne doch gar nicht wissen, ob seine Kausalvermutung richtig sei. Umständlich führt er aus, dass die Ursache ihres Todes für ihn völlig unklar sei – selbst wenn Waleed sie gestoßen habe.
Info
Mediterranean Fever
Regie: Maha Haj,
110 Min., Palästina/ Deutschland/ Frankreich 2022;
mit: Amer Hlehel, Ashraf Farah, Anat Hadid
Weitere Informationen zum Film
Therapie nutzlos
Dabei ist Waleed ein Typ, der sich eher herumschubsen lässt, als dass er selbst jemanden stoßen würde. Der in Haifa lebende israelische Araber hat schwere Depressionen. Seine Tage verbringt er vor allem als Hausmann und Chauffeur für seine Kinder, was ihn unbefriedigt lässt. Das Buch, das er schreiben will, kriegt er nicht zu Papier. Die Therapeutin, die er Woche für Woche sieht, hält er für nutzlos; trotzdem geht er brav weiter hin.
Offizieller Filmtrailer
Eine seltene Krankheit
Regelmäßig wird Waleed von der Schule angerufen, um seinen jüngsten Sohn abzuholen. Den Jungen plagen immer wieder Bauchschmerzen. Waleed vermutet einen psychosomatischen Zusammenhang. Schließlich lässt sich sein Sohn immer genau dann nach Hause schicken, wenn er im Geographie-Unterricht mit den offiziellen Grenzen Israels konfrontiert wird – die mit den Ansichten seiner Eltern über Kreuz liegen. Die Schulärztin schlägt jedoch vor, ihn auf das titelgebende Mittelmeerfieber zu testen. Diese seltene Krankheit existiert tatsächlich, ist eigentlich erblich bedingt und bringt neben dem Fieber auch Bauchschmerzen als Symptom hervor.
Dass Waleed sich fühlt, als würde er die Last der Welt auf seinen Schultern tragen, hat sicher damit zu tun, dass er seiner Meinung nach in einem von Israel besetzten Gebiet lebt. Doch dies und der dahinter stehende Konflikt im Nahen Osten werden keineswegs agitatorisch abgehandelt – Regisseurin Maha Haj webt dieses Element subtil, fast zurückhaltend in die Geschichte ein. Sie lässt auch hier Kausalitäten in der Schwebe: etwa die Frage, was bei Waleeds Depression Ei und was Henne ist. Reibt er sich an den politischen Verhältnissen auf, um von seinem privaten Unglück abzulenken? Oder steht seine individuelle Depression für eine gesellschaftliche, bestimmt das Sein das Bewusstsein?
Der kriminelle Nachbar
Zuletzt drehte die Regisseurin 2016 den Film „Personal Affairs“. Auch hier ging es darum, wie das Politische ins Private einsickert: Der Film handelte von Routinen und der Sprachlosigkeit in einer Familie, die teils in Israel, teils in den Palästinensischen Autonomiegebieten lebt.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Aus nächster Distanz" – Kammerspiel über eine israelisch-libanesische Frauen-Freundschaft von Eran Riklis mit Golshifteh Farahani
und hier eine Besprechung des Films "Ein Tag wie kein anderer" – originelle Tragikomödie aus Israel über Rentner-Kiffer von Asaph Polonsky
und hier einen Beitrag über den Film "Vom Gießen des Zitronenbaums" – skurril-manirierte Episoden-Tragikomödie von und mit dem palästinensischen Filmemacher Elia Suleiman
und hier einen Bericht über den Film "Zaytoun" über eine palästinensisch-israelische Freundschaft im Nahost-Konflikt von Eran Riklis.
Zwischenstation Buddy Movie
Waleed gibt vor, mehr über Jalals kriminelle Aktivitäten erfahren zu wollen, um damit sein Roman-Manuskript endlich voranzubringen. Fortan fungiert er „zu Recherchezwecken“ als dessen Chauffeur. Zwischenzeitlich entsteht der Eindruck, der Film entwickle sich nun zu einem jener buddy movies, in dem sehr unterschiedliche Typen voneinander lernen.
Stattdessen wird es nach einer weiteren überraschenden Wendung richtig abgründig. Als Waleed mitbekommt, dass sein neuer Freund dringend Geld braucht, weil er Schulden bei sinistren Typen hat, schlägt er ihm einen ganz speziellen Auftragsmord vor – was Jalal erst einmal entrüstet ablehnt.
Hakenschlag am Ende
Ganz zum Schluss schlägt die Handlung dann noch einen überraschenden Haken, der alle Überlegungen und Psychologisierungen, zu denen der Zuschauer bisher gekommen sein mag, grundsätzlich in Frage stellt. „Mediterranean Fever“ ist ein intelligenter und metaphorischer, allerdings auch etwas verkopfter Film über das komplexe Verhältnis von Schwermut und gesellschaftlicher Realität.