Hirokazu Kore-eda

Die Unschuld (Monster)

Yori (Hinata Hiiragi) und Minato (Soya Kurokawa) müssen sich den Herausforderungen des Lebens und der Natur stellen. Foto: © 2023 MONSTER Film Committee. Fotoquelle: Wildbunch Germany
(Kinostart: 21.3.) Rashomon lässt grüßen: Mit beeindruckender Sensibilität erzählt Regisseur Hirokazu Kore-eda die Geschichte einer Kinderfreundschaft drei Mal aus drei unterschiedlichen Perspektiven. Damit gelingt ihm großes japanisches Erzählkino in der Tradition von Akira Kurosawa.

Erwachsenwerden ist an sich schon nicht leicht. Für Minato (Soya Kurokawa) scheint es eine besondere Herausforderung zu sein. Er ist ein verschlossener und manchmal etwas seltsamer Junge. Und in letzter Zeit häufen sich die Auffälligkeiten: Erst fehlt ihm ein Turnschuh, dann schneidet er sich eigenständig die Haare; schließlich behauptet er, dass er kein Mensch, sondern ein Monster sei.

 

Info

 

Die Unschuld (Monster)

 

Regie: Hirokazu Kore-eda,

126 Min., Japan 2023;

mit: Ando Sakura, Tanaka Yuko, Nagayama Eita

 

Weitere Informationen zum Film

 

Als seine alleinerziehende Mutter Saori (Sakura Ando) zudem eine unerklärliche Verletzung an Minatos Stirn entdeckt, schlägt sie Alarm. Alles deutet darauf hin, dass Minatos neuer Lehrer, Hori Michitoshi (Eita Nagayama), ihn schikaniert hat. Saori versucht, die Sache mit der Schulleitung zu klären. Doch sie bekommt dort nur fadenscheinige Ausreden zu hören. Es handele sich um ein Missverständnis, mehr nicht.

 

Opfer oder Täter?

 

Langsam beginnt Saori zu ahnen, dass noch etwas anderes nicht stimmt. Denn auch Minatos Klassenkamerad Yori (Hinata Hiiragi) verhält sich plötzlich merkwürdig, und sie fragt sich, ob es da einen Zusammenhang gibt. Könnte es sein, dass ihr Sohn sie belogen hat? Dass er gar nicht Opfer sondern Täter ist?

Offizieller Filmtrailer


 

Zurück auf Anfang

 

An dieser Stelle spult der neue Film von Hirokazu Kore-eda an den Anfang der Geschichte zurück. Ein brennendes Gebäude in der Nachbarschaft dient als Ausgangspunkt. Noch einmal geht das Drehbuch von Yūji Sakamoto verschiedene Schlüsselszenen durch, diesmal aus dem Blickwinkel des Lehrers. Der hat das Gefühl, in dem Fall zum Sündenbock gemacht zu werden. „Was tatsächlich passiert ist, spielt keine Rolle“, lautet der Standpunkt der Direktorin (Yuko Tanaka).

 

Dass sie sich damit irrt, wie auch allen anderen Erwachsenen im Film, beweist dessen dritter Teil. Nun nimmt die Kamera die Perspektive der beiden Jungen ein. Es ist der stärkste und ergreifendste Akt in diesem verschachtelten Drama. Atmosphärisch dicht und mit beeindruckender Sensibilität für seine Figuren beleuchtet Kore-eda darin das Aufblühen der zarten Freundschaft zwischen Yori und Minato.

 

Eine Geschichte, drei Perspektiven

 

Die dramatische Struktur von „Monster“ erinnert an den japanischen Filmklassiker „Rashomon – Das Lustwäldchen“ (1950) von Akira Kurosawa. In beiden Werken werden drei konträre Sichtweisen auf die zentrale Handlung angeboten. Selektive Auslassungen in der Aneinanderreihung der Szenen führen beim Zuschauer zu subtilen Verschiebungen in der Beurteilung. Nichts scheint mehr eindeutig und zuverlässig. Ein Gefühl der Verunsicherung macht sich breit.

 

Demgegenüber steht die fast impressionistische Fantasiewelt, in die Kore-eda seine beiden kindlichen Protagonisten im finalen Akt entfliehen lässt. Ein verlassener Eisenbahnwagon im Wald dient ihnen als geheimer Zufluchtsort vor der harschen Realität. Im unbekümmerten Spiel in der freien Natur kommen sie sich näher, teilen ihre Ängste und Sorgen. Nur hier können sie frei sein, und einfach nur sie selbst.

 

Meister der Manipulation

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Broker – Familie gesucht" – warmherzige Patchworkfamilien-Sittenkomödie aus Südkorea von Hirokazu Kore-eda

 

und hier eine Besprechung des Films "Shoplifters – Familienbande" – Porträt einer Prekariats-Familie in Japan von Hirokazu Kore-eda, Gewinner der Goldenen Palme 2018

 

und hier einen Beitrag über den Film "Parasite" gelungene Sozialsatire von Bong Joon-ho, Gewinner der Goldenen Palme 2019.

 

All das spielt sich in so kräftigen und lebendigen Farben ab, dass man das Gefühl hat, die Welt so zu sehen, wie nur Kinder es können. Doch je stärker der Einfluss der Erwachsenenwelt auf die beiden Freunde einwirkt, desto düsterer wird der Ton. Kore-eda versteht es dabei, noch die schmerzlichsten Momente elegant zu inszenieren. Dazu passt die melancholische Klavier- und Synthesizer-Musik des kürzlich verstorbenen Komponisten Ryūichi Sakamoto. Sie verleiht den Bildern eine mysteriöse Poesie.

 

Bereits in seinen früheren Filmen erwies sich der japanische Regisseur als ein Meister des filmischen Erzählens und der emotionalen Manipulation. Selten sind die Dinge bei ihm so, wie sie auf den ersten Blick erscheinen. In „Shoplifters“ (2018), seinem bisher größten Erfolg, geht es beispielsweise nur oberflächlich um eine kleinkriminelle Zwangsgemeinschaft. Im Kern handelt der Film von einer Handvoll Menschen, die nicht durch Blutsbande, sondern durch Zuneigung und Nächstenliebe miteinander verbunden sind. Familie ist bei Kore-eda immer relativ.

 

Zwei Wahrheiten sind möglich

 

Auch in „Monster“ wird man am Ende mit zwei gegensätzlichen Lesarten der Wahrheit konfrontiert. Es bleibt jedem selbst überlassen, ob man sich für einen hoffungsvollen Ausgang entscheidet, oder für die Tragödie. Beides ist möglich, beides ist legitim. Worauf es ankommt, ist die Botschaft, die dahinter steht: Minato und Yori wachsen in einer Welt auf, die mit ihrem Anderssein noch immer Probleme hat. Doch nicht sie sollten sich ändern, anpassen oder einfügen müssen. Ganz im Gegenteil.