Marta Savina

Primadonna – Das Mädchen von morgen

Bei einer Prozession sucht Lia (Claudia Gusmano) den Blickkontakt zu Lorenzo (Dario Aita), dem Sohn des Mafiabosses im Dorf. Foto: Kairos Film
(Kinostart: 10.4.) Die Frau als Beute: Traditionell blieb in Süditalien Vergewaltigung straffrei, wenn der Peiniger sein Opfer anschließend heiratete. Dagegen begehrte 1966 eine junge Sizilianerin auf; ihren Fall verfilmt Regisseurin Marta Savina so schnörkellos wie ergreifend, dank exzellenter Schauspieler.

Die 18-jährige Lia (Claudia Gusmano), die mit ihrer Familie im Bergdorf Galati im Nordosten Siziliens wohnt, ist eigentlich eine folgsame Tochter – sie hat aber auch ihren eigenen Kopf. Anstatt bei ihrer Mutter Sara (Manuela Ventura) im Haus zu bleiben, hilft sie lieber ihrem Vater Pietro (Fabrizio Ferracane) bei der Feldarbeit. Und wenn sie im Auftrag ihrer Mama einen Geldschein als Spende an einem Madonnen-Schrein befestigt, pflückt sie sich dafür einen anderen ab.

 

Info

 

Primadonna –

Das Mädchen von morgen

 

Regie: Marta Savina,

102 Min., Italien 2023;

mit: Claudia Gusmano, Fabrizio Ferracane, Manuela Ventura, Dario Aita

 

Weitere Informationen zum Film

 

Auch ihre Teilnahme an einer Prozession zu Ehren der Gottesmutter – im Sizilien der 1960er Jahre ein soziales Muss – nutzt sie für ihre eigenen Zwecke: für Blickkontakt zum Balkon der Musicòs. Dieser Clan hat das Dorf in der Hand; sein Oberhaupt lässt sich von der Menge zujubeln wie ein Mafiaboss. Währenddessen sucht sein neben ihm stehender Neffe Lorenzo (Dario Aita) mit den Augen das Gesicht von Lia in der Menge.

 

Rückkehrer aus Deutschland

 

Beide verband schon früher ein kurzes Techtelmechtel. Dann musste Lorenzo für einige Zeit nach Deutschland; offenbar, weil für ihn das heimische Pflaster zu heiß wurde, obwohl er angeblich Deutsch lernen wollte. Das erzählt er Lia beim ersten Wiedersehen – bei dem sie schnell merkt, dass ihr Verehrer ein arrogant gebieterisches Gebaren an den Tag legt, das sie abstößt. Sie will ihn loswerden.

Offizieller Filmtrailer OmU


 

Erste Verfilmung 1970 mit Ornella Muti

 

Vergeblich: Lorenzo kreuzt mit vier Kumpels vor ihrem Elternhaus auf, entführt sie und ihren achtjährigen Bruder, hält sie mehrere Tage gefangen und vergewaltigt sie, bevor er sein Opfer wieder freilässt – um sie auf diese Weise in eine Ehe zu zwingen. Denn Lia ist nun entehrt, was sie gemäß sizilianischer Tradition nur dadurch ausbügeln kann, dass sie ihren Vergewaltiger heiratet. Doch sie verweigert nicht nur die „Reparaturehe“ („matrimonio riparatore“), sondern – schlimmer noch – sie zeigt ihren Peiniger an. Es kommt zum Prozess.

 

Nach einer wahren Begebenheit: Die 18-jährige Franca Viola weigerte sich 1966 ebenfalls, ihren Vergewaltiger zu ehelichen, und ging stattdessen rechtlich gegen ihn vor. Ihr Fall erregte damals in Italien großes Aufsehen und wurde bereits 1970 mit Ornella Muti in der Hauptrolle von Regisseur Damiano Damiani verfilmt; er drehte später die erste Staffel der TV-Serie „Allein gegen die Mafia“.

 

Unprätentiöse Inszenierung weckt Mitgefühl

 

Regisseurin Marta Savina hält sich in ihrem Spielfilmdebüt eng an die historische Vorlage, bis auf ein paar Details. Franca Viola wohnt bis heute in der Kleinstadt Alcamo in Westsizilien, wo die Mafia traditionell besonders stark ist; die lokale Sippe heißt Melodia. Doch darauf kommt es kaum an. Ohnehin beschränkt sich das Geschehen weitgehend auf wenige Schauplätze: das Elternhaus; der karge Acker, auf dem Vater und Tochter schuften; die Dorfstraße vor der Kirche mit ihrem korrupten Priester und ein Gerichtssaal.

 

Dabei vermag es Regisseurin Savina, mit einer schnörkellos unprätentiösen Inszenierung Mitgefühl zu wecken. Was dank hervorragender Schauspieler gelingt, allen voran Claudia Gusmano: Wie ihre anfängliche Naivität bald in Skepsis umschlägt, um später zwischen Abscheu und Resignation zu schwanken – das bringt sie mit feinstem Minenspiel zum Ausdruck. Genauso überzeugen ihre Eltern; Fabrizio Ferracane als aufrechter Familienvater, der Lia unterstützen will – wofür dem armen Bauern alle Mittel fehlen. Und Manuela Ventura als Mutter, die zwischen Tochterliebe und Unterwerfung unter sozialen Druck hin- und hergerissen ist.

 

Schwuler Ex-Bürgermeister als Anwalt

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Morgen ist auch noch ein Tag" – italienischer Kassenschlager im Stil des Neorealismo über häusliche Gewalt von Paola Cortellesi

 

und hier eine Besprechung des Films "Das Mädchen Hirut – Difret" – fesselndes Brautraub-Drama aus Äthiopien von Zeresenay Berhane Mehari

 

und hier einen Beitrag über den Film "Das Land der Heiligen – La Terra dei Santi" – origineller Film über die italienische Mafia aus Frauensicht von Fernando Muraca

 

und hier einen Bericht über den Film "Il Traditore –Als Kronzeuge gegen die Cosa Nostra" - grandioses Anti-Mafia-Epos von Marco Bellocchio.

 

Um den zu skizzieren, genügen der Regisseurin kurze Andeutungen: Im Schutz der Dunkelheit weiden Kühe die Gemüsebeete auf dem Acker ab. Oder ein nächtliches Feuer brennt alle Halme nieder. Oder ein Stein fliegt durchs Fenster, samt Zettel mit Drohungen. Nach kurzer Zeit kann die Familie weder in die Dorfmitte noch an den Strand gehen, ohne angefeindet zu werden. Da erscheint die Auswanderung nach Norditalien als einziger Ausweg.

 

Zugleich wird das Gerichtsverfahren zum Höhepunkt des Dramas. Allein die Suche nach einem Rechtsbeistand gerät nervenzermürbend: Ein renommierter Strafverteidiger lässt sich lieber von den Musicòs engagieren. Schließlich springt der schwule Ex-Bürgermeister Orlando (Francesco Collela) ein, obgleich er seit Jahren nicht mehr als Anwalt tätig war – wie er trotz seiner sexuellen Orientierung zum Stadtoberhaupt werden konnte, bleibt allerdings ungeklärt. Ebenso die Rolle der Dorfhure Ines; sie stärkt Lia moralisch den Rücken und versorgt sie mit Insider-Infos aus den Betten des Clans.

 

Gesetzesänderung nach 15 Jahren

 

Auch wenn das Ende in Italiens Justiz-Geschichtsbüchern steht, ergreift die Verkündung des Urteils sehr. Zumal es nicht Abschluss, sondern Auftakt zu einer 15-jährigen Debatte war: Erst 1981 wurde die Bestimmung im Strafgesetzbuch aufgehoben, die Vergewaltigern nach „Reparaturehen“ Straffreiheit gewährte. Dass die Diskussion so lange dauerte, war weniger machismo geschuldet als vielmehr dem Argument, in Anbetracht des Patriarchalismus in Süditalien sei ein „matrimonio riparatore“ faktisch für viele junge Paare die einzige Möglichkeit, gegen den Willen ihrer Eltern zu heiraten. Das wäre auch einen Spielfilm wert.