Schau-Lust ist stets ein wenig Grenzverletzung: Interessieren wir uns nicht alle für die kleinen Geheimnisse, die wir selbst hüten und bei Anderen hinter verschlossenen Türen vermuten? Um diese Neugier dreht sich «In ihrem Haus» von François Ozon, einem der vielseitigsten französischen Autorenfilmer der Gegenwart.
Info
In ihrem Haus
Regie: François Ozon, 105 min., Frankreich 2012;
mit: Fabrice Luchini,
Ernst Umhauer,
Kristin Scott Thomas
Schlechteste Klasse aller Zeiten
Germain (Fabrice Luchini), ein verhinderter Schriftsteller, ist Französisch-Lehrer an einem normalen Gymnasium. Und frustriert: Seine Schüler verschmelzen in seinen Augen zu einer gleichförmigen Masse. Er macht sich Sorgen um Frankreichs Zukunft, denn in diesem Jahr plagt ihn «mal wieder die schlechteste Klasse, die er je hatte».
Offizieller Filmtrailer
Pikante Schüler-Aufsätze
Dann reißen ihn die Aufsätze des 16-jährigen Claude (Ernst Umhauer) aus seiner Routine: Sie sind sehr gut geschrieben und haben pikanten Inhalt. Claude berichtet über seinen Mitschüler Rapha Artole, dessen Eltern – und wie er sich endlich Zugang zu deren Haus verschafft hat.
Seine Texte sind voller Ironie und Spott, intimer Details und unverhohlenem erotischen Interesse an Madame Artole (Emmanuelle Seigner). Mit seiner angekündigten Grenzüberschreitung weckt Claude das Interesse des Lehrers und dessen Frau Jeanne (Kristin Scott Thomas): an seiner Person wie am Fortgang der Geschichte.
Publikum wird zum Komplizen
Jeder Aufsatz endet mit einem verheißungsvollen «Fortsetzung folgt»: Als Zuschauer wird man vom Film genauso geködert wie das Ehepaar von Claudes Erzählungen. Germain nimmt sich des Jungen an, gibt ihm Nachhilfe in Schreibtechniken und ermutigt ihn, Familie Artole weiter zu besuchen und darüber zu berichten.
Damit ist der große Reigen aus Erfindungen, Spekulationen, Begehren und Verleumdungen eröffnet. Das wird mit viel Spielfreude so überzeugend vorgeführt, dass es das Publikum unweigerlich in das Geschehen hineinzieht: Als Komplizen von Germain lassen wir uns von Claude ebenso unterhalten wie hinters Licht führen – und füllen die Lücken seiner Aufsätze mit unseren Vorstellungen.
Weder harm- noch folgenloses Verwirrspiel
Hintergrund
Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau
bei Film-Zeit.
Lesen Sie hier eine kultiversum-Besprechung des Films "Potiche - Das Schmuckstück"
von François Ozon mit Catherine Deneuve
und hier einen Beitrag über den Film "Rückkehr ans Meer" von François Ozon
sowie eine Rezension des Films "Lachsfischen im Jemen" von Lasse Hallström mit Kristin Scott Thomas.
Dieses virtuose Verwirr-Spiel mit der Wahrnehmung bleibt weder harm- noch folgenlos. Dass Voyeurismus dem Objekt seiner Begierde immer auch etwas Gewalt antut, spielt der Film in manchen Genres durch: hier ein Schuss Krimi, da eine Prise Liebes-Drama, versetzt mit allerlei Experimenten.
Selten spannender Alltag
Dabei bleibt der Film ein reines Seh-Vergnügen wegen seiner fabelhaften Akteure: Kristin Scott Thomas und Fabrice Luchini wirken als Ehepaar so authentisch, als würde man beide schon seit Jahren kennen. Wobei Ozon alle Verstrickungen bis zum Schluss kunstvoll in der Schwebe hält – selten war Alltag so spannend.