Eine Gruppe junger Leute verübt gleichzeitig mehrere Attentate in Paris. Die Kamera folgt ihnen durch Straßen und Metro-Stationen. Vignettenhafte Rückblenden zeigen, wie sie ihren Plan ausgeheckt haben, der sie nach der Detonation mehrerer Bomben in einem Luxus-Kaufhaus zusammenführt. Dort verstecken sie sich vor der polizeilichen Fahndung. Morgen früh, so haben sie es geplant, wollen sie nach Hause gehen und sehen, was geschieht.
Info
Nocturama
Regie: Bertrand Bonello,
130 Min., Frankreich 2016;
mit: Finnegan Oldfield, Vincent Rottiers, Hamza Meziani
Kein Krimi + kein thriller
Regisseur Bertrand Bonello spart in „Nocturama“ vieles aus. Offenbar ist ihm nicht an einem realistischen Krimi gelegen, der erklären will, was sich in den Köpfen frustrierter Jugendlicher abspielt – und obwohl er Elemente des thriller aufruft, auch nicht am thrill. Ohne Motive fällt es schwer, sich mit den jungen Leuten zu identifizieren. Wofür stehen sie?
Offizieller Filmtrailer
Viele Zitate, wenig Durchblick
Sie selbst geben zunächst wenig preis. Es gibt auch in der realen Gegenwart kein Muster, keine aktuellen Vorbilder für eine spontane Allianz zwischen bürgerlichen Frustrierten und ethnisch stigmatisierten Abgehängten, die ohne Manifest oder politische Agenda zuschlugen. Mehr Antworten bietet hingegen der zweite Teil des Films.
Während die Akteure eine Nacht im Kaufhaus verbringen, legt der Regisseur ihre Charaktere allmählich frei: mit Zitaten aus genre-Filmen, Werbung und postmodernen, also nicht-linearen Erzähltechniken. Das Kaufhaus dient dabei wie im klassischen zombie-Film „Dawn of the Dead“ (1978) von George A. Romero als Manifestation des Warenfetischs im zeitweiligen Dornröschenschlaf. Ein ideales setting für Träume und Begehren, Albträume und Verdrängtes – und ein Labyrinth im mythologischen Sinn, in dem die Figuren ihren eigenen Weg durch einen Übergangsritus suchen müssen.
Vorformatierte Werbe-images
Auf diesem mit reichlich product placement ausgestatteten set bewegen sich die Jugendlichen in einem Netz vertrauter Zeichen, in dem sie sich im Lauf der Nacht zunehmend verheddern. Einer von ihnen entdeckt an einem mannequin eine Kopie seines eigenen outfits. Voilà: Seine behauptete Individualität entpuppt sich als vorformatiertes image einer Turnschuh-Firma. Später entdeckt er seine feminine Seite.
Anderes bleibt seltsam unbestimmt. Mitverschwörer Omar hatte sich in den Sicherheitsdienst des Kaufhauses eingeschlichen und sollte die Kollegen vom Wachschutz fesseln; stattdessen erschoss er sie. Auf die Frage nach dem Grund antwortet er: „Ich weiß es nicht“. Attentäter David (Finnegan Oldfield) blüht durch den kick der Tat und seine neuen Klamotten auf; womöglich hat er nur mitgemacht, um seine Freundin zu beeindrucken. Die beiden Frauen in der Gruppe sind auffallend eindimensional gezeichnet; am meisten erfährt man über ihre Rolle als Liebesobjekte.
Gesellschaftliches Außen
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Der Himmel wird warten" über vom "Islamischen Staat" rekrutierte Jugendliche in Frankreich von Marie-Castille Mention-Schaar
und hier eine Besprechung des Films "Bande de Filles – Girlhood" – Milieustudie schwarzer Girlies in der Pariser Banlieue von Céline Sciamma
und hier einen Bericht über den Film "Youth" – naturalistisches Kidnapping-Drama über orientierungslose Jugendliche in Israel von Tom Shoval
und hier einen Beitrag über den Film "Kriegerin" – packendes Jugend-Drama aus der ostdeutschen Neonazi-Szene von David Wnendt.
Dabei stellen die jüngsten und völlig anders – entweder rechtsextrem oder islamistisch – motivierten Attentate in europäischen Metropolen nur einen Kontext unter vielen dar. Der Film lässt seine Zuschauer mit vielen Fragen zurück. Sie dürften, je nach Perspektive, ganz unterschiedlich ausfallen: von „Was hätte ich getan?“ bis zu „Wie können sie nur?“
Toleranz des Staats
So kann sich jeder seinen eigenen Weg durch Bonellos Film-Labyrinth bahnen; vorausgesetzt, man lässt sich von seinem Übermaß an postmoderner Theorie und Um-die-Ecke-Gedachtem nicht aus der Bahn werfen. Am Ende steht ein ziemlich ernüchterndes Urteil über das revolutionäre Potential der nachwachsenden Generation – doch auch dem Staat wird moralische Überlegenheit abgesprochen. Wie hoch ist seine Toleranz gegenüber jenen, die das Profil angeblicher „Staatsfeinde“ erfüllen – oder auch nur zur falschen Zeit am falschem Ort dafür gehalten werden? Die Antwort von „Nocturama“ lautet: null.