Man sollte lieber nicht versuchen, die ganze Welt zu verstehen, hat Regisseurin Agnès Varda einmal gesagt: Stattdessen solle man besser bei seinen Nachbarn anfangen. Fasst man den „Nachbarn“-Begriff etwas weiter, dann nahm sich Varda in ihrem dokumentarischen Werk – sie hat ähnlich viele Spielfilme gedreht – stets selbst beim Wort: Ihre Filme handeln von wirklichen Menschen, nicht von abstrakten Ideen. Was auch daran liegen mag, dass Varda in den 1950er Jahren als Fotografin begann: Bei diesem Medium kommt es nach ihren Worten weniger auf Technik als auf einen ganz bestimmten Blick an.
Info
Augenblicke:
Gesichter einer Reise
( Visages Villages)
Regie: Agnès Varda und JR
93 Min., Frankreich 2017;
JR-Werke auf Berliner Hauswänden
Insofern verbindet die mittlerweile 90-jährige Filmemacherin einiges mit dem 35-jährigen Fotografen und Streetart-Künstler JR, eigentlich Jean René. Seine Arbeit wurde in den letzten zehn Jahren weltweit enorm populär, was ihn auch für große Museen und wichtige Galerien salonfähig machte. In Berlin zieren seine Werke ganze Häuserwände; 2014 widmete ihm das Museum Frieder Burda in Baden-Baden eine umfassende Retrospektive.
Offizieller Filmtrailer
Gesichter als Plakate im öffentlichem Raum
Für seine langlebigste – und inzwischen rund um den Globus ausgeweitete – Kunstaktion „Inside Out“ lädt JR auf der Straße Passanten ein, sich in einem zum Fotoautomaten umgebauten Kleinlaster fotografieren zu lassen. Anschließend werden die großformatig ausgedruckten Schwarzweiß-Porträts an öffentlichen Orten plakatiert: auf Häuserwänden, Fabriken oder Eisenbahnwaggons. Die Idee ist einfach: Man kommt mit Menschen ins Gespräch, die als Teilnehmer einer Kunstaktion ihrerseits zum Gesprächsthema anderer Leute werden. Und das umso intensiver, je weniger in der betreffenden Gegend ansonsten los ist.
Der von Agnès Varda und JR gemeinsam inszenierte Film, der im Original knapp und passend „Visages Villages“ („Gesichter Dörfer“) betitelt ist, setzt diese Aktion modifiziert fort: Sie reisen mit JRs Team und dem rollenden Fotoautomaten quer durch ländliche Gegenden und Kleinstädte in Frankreich, um Leute zu fotografieren, die sie dort antreffen. Dabei entstehen überdimensionierte Poster; sie sind ebenso sehr Denkanstöße wie Dokumente vergänglicher Erinnerungen.
Hafenarbeiter-Frauen auf Frachtcontainern
Das hauswandgroße Porträt einer Café-Kellnerin bietet Einheimischen und Touristen in einem Städtchen Gesprächsstoff für einen Sommer. Das Antlitz der letzten Bewohnerin einer zum Abriss freigegebenen Bergarbeitersiedlung wird zur Hommage an eine aussterbende Kultur – und an die Hartnäckigkeit einer Frau, die ihr Zuhause nicht verlassen will.
Auch die Ganzkörperporträts von den Frauen dreier Hafenarbeiter, die auf Frachtcontainer geklebt wurden, belegen das Interesse beider Künstler an starken Frauen – an der Seite ihrer Männer und nicht etwa dahinter, wie Varda betont. Eine Foto-Aktion in einem verlassenen Dorf, das nur noch aus Ruinen besteht, nehmen die Bewohner des Umlands zum Anlass für ein fröhliches Fest.
Vardas Augen + Füße auf Zugreise
Hintergrund
Lesen Sie hier einen Hinweis auf die Austellung "JR" – Werkschau des französischen Fotografen und Streetart-Künstlers Jean René im Museum Frieder Burda, Baden-Baden
und hier eine Rezension des Films "Art War" – fulminante Doku über politische Streetart in Kairo als Teil der Arabellion von Marco Wilms
und hier einen Bericht über die Ausstellung "Blow Up - Antonionis Filmklassiker und die Fotografie" in der Galerie C/O Berlin.
Dabei wird auch eigene Vergänglichkeit zum Thema: Die manchmal als „Großmutter der Nouvelle Vague“ bezeichnete Regisseurin hat mittlerweile Augenprobleme und kann auch nicht mehr gut laufen. Also fotografiert JR ihre Augen und Füße; dann lässt er beides als Poster auf Waggons eines Güterzuges auf Reisen gehen.
Mit Rollstuhl durch den Louvre rasen
Wichtiger als sich selbst nimmt Varda jedoch alte Freunde, etwa den in Frankreich berühmten Modefotografen Guy Bourdin (1928-1991). Sein Konterfei schmückt kurzzeitig den Betonklotz eines Atlantikwall-Bunkers am Strand – ehe die Flut das papierne Kunstwerk wieder hinweg wäscht. Etwas länger dauert die Hommage an den Nouvelle-Vague-Kollegen Jean-Luc Godard: In Anlehnung an den rekordverdächtig kurzen Louvre-Besuch der Hauptdarsteller in seinem Film „Die Außenseiterbande“ (1964) rasen JR im Godard-Look mit Hut und Sonnenbrille und Varda im Rollstuhl noch schneller und übermütiger durch die Schloss-Säle.
Ein Besuch bei Godard daheim fällt allerdings aus. Zwar hat der Regisseur eine Nachricht hinterlassen, doch seine Tür bleibt verschlossen. Wohl zurecht: Die alten Zeiten kommen nicht zurück, ein Wiedersehen hätte vielleicht arg nostalgieselig gewirkt. Stattdessen erlebt man eine höchst lebendige Agnès Varda; sie ist noch fest in der Gegenwart verankert und im Kopf beeindruckend jung geblieben.