71. Berlinale

Phantom-Festival der Anti-Ästhetik

Goldener Bär für den Besten Film: Bad Luck Banging or Loony Porn von Radu Jude . Foto: © Silviu Ghetie / Micro Film 2021 /© Berlinale
Festspiele unter Ausschluss der Öffentlichkeit: Nur das Fachpublikum sah alle Filme online. Dagegen blieben die Jury-Entscheidungen der langjährigen Tradition treu; Polit-Pädagogik und spröde Dokus zählen mehr als großes Kino.

War da was? Dass in der vergangenen Woche in Berlin das weltgrößte Publikums-Filmfestival ablief, blieb fast unbemerkt. Keine Plakat- und Bannerwerbung, keine Schlangen vor Kinokassen, keine Stars auf roten Teppichen und keine Premierenpartys. Selbst die Berichterstattung beschränkte sich auf ein Minimum – obwohl mehrere Hundert Journalisten Zugang zum stark gekürzten Programm hatten, das ansonsten den Profis der Filmindustrie vorbehalten blieb.

 

Info

 

71. Berlinale

 

Industry Event / Summer Spezial

01.-05.03. / 09.-20.06.2021

 

Website des Festivals

 

Sie durften alle Filme online sichten. Nur die Jurys der verschiedenen Sektionen sahen die Werke dort, wofür sie gemacht sind: auf dafür reservierten Leinwänden. Das breite Publikum muss sich bis zum Sommer gedulden; vom 9. bis 20. Juni sollen alle Berlinale-Beiträge in Kinos gezeigt werden. Die jetzige Quasi-Preview war dem Arbeitsrhythmus der Branche geschuldet. Einer ihrer wichtigsten Handelsplätze ist der alljährlich zeitgleich mit dem Festival stattfindende European Film Market – seine Verschiebung hätte viele Pläne arg durcheinander gebracht.

 

Lauwarmes Desinteresse im Juni

 

Dass die Wettbewerbe praktisch inkognito abliefen und die Jurys Werke ausgezeichnet haben, die fast keiner gesehen hat, nimmt den Festspielen natürlich jede Dramatik. Die aufgeregten Debatten in den Feuilletons und unter Filmfans über Vorzüge und Nachteile der einzelnen Kandidaten fielen diesmal weg; ebenso die fiebrige Festivalatmosphäre aus Übermüdung, Ticket-Jagdfieber und Glückstreffern. Wenn die Preisträger im Sommer ins Kino kommen werden, könnte ihnen so lauwarmes Desinteresse entgegenschlagen wie etlichen Bären-Gewinnern vergangener Jahre, die erst Monate später regulär anliefen.

Offizieller Trailer des Siegerfilms


 

Kurzatmige Existenzangst

 

Doch anders geht es während einer Pandemie wohl nicht. Sie drückt auch dem ganzen Filmjahrgang seinen Stempel auf – opulente Großproduktionen entfallen aus nahe liegenden Gründen. Stattdessen dominieren kleine Formen in Innenräumen mit schlanker Besetzung. Diese Kammerspiele gönnen sich höchstens Spaziergänge auf der Straße, um die Weite von Stadtlandschaften einzufangen. Der Zwang zur Reduktion aufs Wesentliche schlägt auch auf die Drehbücher durch.

 

Viele reihen Episoden unverbunden aneinander, als trauten sie sich Geschichten mit großem Spannungsbogen nicht zu. Solche Kurzatmigkeit lässt sich als Symptom für die Existenzangst eines Mediums deuten, das seine Verdrängung durch Streaming-Dienste und Youtube-Videoclips befürchtet: Es passt sich den vermuteten Sehgewohnheiten eines Publikums an, das sich an Drei-Minuten-Schnipsel gewöhnt hat.

 

Tribunal für Privatporno

 

So zerfällt der Goldbären-Gewinner „Bad Luck Banging or Loony Porn“ (etwa „Pech beim Vögeln oder Verrückter Porno“) in drei rund halbstündige Teile, die wenig miteinander verbindet. Im ersten Teil folgt die Kamera der Hauptdarstellerin bei Fußmärschen durch die Innenstadt von Bukarest. Die Lehrerin hat mit ihrem Mann einen Privatporno gedreht und auf eine Adult-Only-Website hochgeladen, doch der Clip wurde geleakt und kursiert nun unter ihren Schülern. Ihr droht Ärger – kein Wunder, dass sie zusehends gereizt reagiert.

 

Im zweiten Teil montiert Regisseur Radu Jude aus Archivmaterial eine Art visuelles Wörterbuch des Schreckens. Ob Kirchen, Bibliotheken oder Pelzmäntel: Zu allen Stichwörtern fallen ihm lauter Leichen ein, die das heutige Rumänien im Keller hat. Den dritten Teil füllt ein Tribunal: Die Eltern ihrer Schüler – kostümiert als Vertreter sozialer Gruppen wie Offizier, Priester und Karrierefrau – halten über sie Gericht. Mit langatmigen Wortgefechten voller Vorurteile, Klischees und Zoten; quasi als Facebook-Shitstorm auf dem Schulhof.

 

Geschichte der Gewalt

 

In seinen Werken taucht Radu Jude stets in Rumäniens gewaltgesättigte Vergangenheit ein. „Aferim!“ (2015) zeigte beklemmend, wie brutal dortige Adlige vor 1850 ihre Roma-Untertanen behandelten; dafür erhielt Jude einen Silbernen Bären für die Beste Regie, aber sein Film fand hierzulande keinen Verleih. Dagegen kam „Scarred Hearts – Vernarbte Herzen“ 2017 in deutsche Kinos. Doch das zähe Porträt eines Tuberkulosekranken vor 80 Jahren, gleichsam eine rumänische „Zauberberg“-Version, fand nur wenige Zuschauer.

 

Ähnlich erging es 2018 „Mir ist es egal, wenn wir als Barbaren in die Geschichte eingehen“ – das Zitat wird dem rumänischen Militärdiktator Mihai Antonescu zugeschrieben. Eine Theaterregisseurin will an ein Massaker von 1941 an 25.000 Juden erinnern, bekommt aber von allen Seiten Contra. In Rumänien mag das Sujet an ein Tabu rühren – im Heimatland der Vergangenheitsbewältigung wirkt seine Umsetzung arg volkspädagogisch. Radu Judes Doku „The Exit of Trains“ voller Passfotos von Ermordeten bei einem Pogrom 1941 im rumänischen Iaşi lief im Vorjahr nur auf der Berlinale.

 

Lieber Hörspielfassung lauschen

 

Vielleicht gefiel der Jury an Judes diesjährigem Doppelmoral-Triptychon seine radikale Aktualität: Alle Darsteller tragen Gesichtsmasken – das kam in keinem anderen Beitrag vor. Aus drei unverbundenen Teilen besteht auch der japanische Film „Wheel of Fortune and Fantasy“ („Glücks- und Fantasierad“), der mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet wurde. Regisseur Ryusuke Hamaguchi lässt Duos und Trios über erhoffte und verflossene Liebe und Erotik sinnieren und streiten. In melancholisch perlenden Dialogen, die an Eric Rohmers wortreiche Sittenkomödien erinnern – allerdings so banal bebildert, dass man lieber einer Hörspielfassung lauschen würde.

 

Noch weniger bietet „Introduction“ vom koreanischen Berlinale-Dauergast Hong Sangsoo: In unscharfen Schwarzweiß-Aufnahmen stehen Schauspieler linkisch herum und traktieren einander mit Floskeln. Dafür bekam Hong den Silbernen Bären für das Beste Drehbuch. Wenig ambitioniert ist auch die Bildgestaltung von „Herr Bachmann und seine Klasse“, prämiert mit dem Preis der Jury: Regisseurin Maria Speth dokumentiert dreieinhalb Stunden lang, wie heutiger Schulunterricht mit Empathie und gutem Willen gelingen kann.

 

Wie Meister der 2. Bundesliga

 

Dagegen kann man dem Ungarn Denés Nagy, bedacht mit dem Silbernen Bären für die Beste Regie, Formwillen nicht absprechen. Sein Kriegsfilm „Natural Light“ („Natürliches Licht“) zitiert viele osteuropäische Klassiker des Genres – bleibt aber inhaltlich völlig konventionell. Eher umgekehrt verhält es sich bei den meisten Filmen der zweiten Wettbewerbs-Reihe „Encounters“. Berlinale-Leiter Carlo Chatrian hatte sie bei seinem Amtsantritt im Vorjahr eingeführt, damit ungewöhnliche und gewagte Filme mehr Beachtung und prestigeträchtige Preise erhalten.

 

Leider zeigt „Encounters“ abermals, dass diese Parallelaktion überflüssig ist. Als würde die 2. Fußball-Bundesliga ebenfalls einen Meister küren, damit auch Rumpelkicker im Rampenlicht stehen dürfen. Die meisten Beiträge sind ungelenke Kleinproduktionen ohne jede Chance an der Kinokasse. „Nous“ („Wir“) von Alice Diop, zum „Besten Film“ gekürt, besucht mit wackelnder Handkamera dunkelhäutige Bewohner der Pariser Vorstädte. „Vị“ („Geschmack“) von Lê Bảo kaschiert mit erlesenen Bildern, dass er über das Elend in den Slums von Ho-Chi-Minh-Stadt wenig zu sagen hat – was die Jury mit dem Spezialpreis belohnte.

 

Großes Kino auf Sommerwiese

 

Das Gleiche im Goldenen Käfig gelingt den Schweizern Ramon und Silvan Zürcher mit „Das Mädchen und die Spinne“: Ihre Twentysomethings, die WG-Räume renovieren und herumtändeln, sind so wohlbehütet und -versorgt, brav und blass, dass dafür der Preis für die Beste Regie zwingend erscheint. Ex aequo: Die andere Hälfte des Preises erhielt der Frankokanadier Denis Côté für „Hygiène sociale“ („Soziale Hygiene“).

 

Als einziger Preisträger der Auswahl führt er vor, was Chatrian für „Encounters“ vorschweben mag: wie man mit bescheidenen Mitteln und originellen Ideen großes Kino inszeniert. Côté stellt einfach ein halbes Dutzend Darsteller auf Abstand in eine Sommerwiese; dort deklamieren sie geschliffene Dialoge im Stil einer Salonkomödie von Oscar Wilde. Im Nu entsteht das Porträt eines verarmten Dandys als verschlagenem Ganoven.

 

Diskreter Reiz von Robotern

 

Großes Kino auf der Berlinale? Wie üblich finden sich in den übrigen Sektionen versteckte Perlen. Zum Beispiel „Le monde après nous“ („Die Welt nach uns“) von Louda Ben Salah-Cazanas im Panorama: eine mitreißend pointierte Liebesgeschichte zwischen französischen Jungintellektuellen, die François Truffaut nicht leichtfüßiger hätte inszenieren können. Oder „The Last Forest“: In nur 74 Minuten stellt Luiz Bolognesi eindringlich vor Augen, wie das archaische Dasein der Yanomami-Indianer am Amazonas bedroht wird.

 

Hintergrund

 

Lesen Sieeine Rezension des Films "Mir ist es egal, wenn wir als Barbaren in die Geschichte eingehen" - rumänisches Historiendrama von Radu Jude

 

 und hier ein Beitrag über den Film "Scarred Hearts – Vernarbte Herzen" - Romanadaption des rumänischen Quasi-„Zauberberg“ von Radu Jude

 

und hier eine Festival-Bilanz der 70. Berlinale 2020: "Verwelkte Vorschusslorbeeren"

 

und hier eine Festival-Bilanz der 69. Berlinale 2019: "Schmallippiger Staatsbetrieb"

 

und hier eine Festival-Bilanz der 68. Berlinale 2018: "Behinderten-Sex im Bären-Portfolio"

 

In wunderbar komponierten, farbsatten Einstellungen; auch das gibt es auf der Berlinale. Etwa im deutschen Wettbewerbs-Beitrag „Ich bin dein Mensch“, einem der klügsten Science-Fiction-Filme der letzten Jahre: Regisseurin Maria Schrader dekliniert die Beziehung von natürlicher zu künstlicher Intelligenz so prägnant und lebensklug durch, dass am Ende alles über den diskreten Reiz von Robotern gesagt ist. Mit einer furios aufspielenden Maren Eggert, die dafür völlig zurecht mit dem Silbernen Bären für die Beste darstellerische Leistung geehrt wurde.

 

Spiegelbilder der Corona-Saison

 

Dagegen gingen die beiden anderen heimischen Bären-Aspiranten leer aus: Dominik Grafs präzise ausgestattete und bestens besetzte Adaption von Erich Kästners Roman „Fabian oder der Gang vor die Hunde“ ebenso wie Daniel Brühls Regiedebüt „Nebenan“, ein Schlagabtausch zwischen Überflieger und Loser am Kneipentresen. Obwohl beide Filme preiswürdig gewesen wären, sagen viele der Wenigen, die ihn gesehen haben: Außer der Jury wurden sie nur einem exklusiven Zirkel von Premium-Filmkritikern vorgeführt.

 

Doch die Jurys haben anders entschieden: für eine Anti-Ästhetik des Spröden, Sperrigen und Fragmentarischen. Weil sie darin die passenden Spiegelbilder für eine lahm gelegte, lethargische und angstbesetzte Corona-Saison sehen? Im Juni kann sich das Publikum sein eigenes Bild machen: Es täte gut daran, die meisten Preisträger zu meiden.