
Am filmischen Potenzial von Billie Holidays Leben hat spätestens seit ihrem Tod im Jahr 1959 niemand gezweifelt. Das Biopic „The United States vs. Billie Holiday“ brachte die Geschichte der Jazzsängerin erst vor einigen Monaten auf die große Leinwand; es erzählte einmal mehr von Sternstunden und Abstürzen, Drogen und Gefängnis. Auch die Dokumentation „Billie – Legende des Jazz“ handelt davon – doch sie findet einen neuen und überraschenden Dreh: Der Film funktioniert wie eine True-Crime-Story.
Info
Billie – Legende des Jazz
Regie: James Erskin,
98 Min., Großbritannien 2019;
mit: Billie Holiday, Charles Mingus, Tony Bennett
Tod im Schnee
Kuehl wurde 1978 an einem schneereichen Wintertag tot auf einem Gehweg in Washington, DC, aufgefunden. Selbstmord, befand die Polizei damals. Vielleicht hat sie jemand aus dem Fenster ihres Hotelzimmers gestoßen, mutmaßt Kuehls Schwester mehr als vierzig Jahre später vor Erskines Kamera. Sie spricht von Drohungen, die Kuehl erhalten habe, und suggeriert einen Zusammenhang mit der Arbeit an ihrem Buch, in dem Rassismus, ausbeuterische Strukturen der Musikindustrie und FBI-Operationen gegen Holiday eine wichtige Rolle spielen sollten.
Offizieller Filmtrailer OmU
Erzählung im O-Ton
Linda Kuehl führte Interviews mit rund 200 Personen, darunter den meisten relevanten Akteuren in Holidays Leben: Verwandte und alte Freundinnen, Manager und Musiker, Bewunderer und Geliebte. In den Siebzigern konnten sie alle noch selbst Zeugnis ablegen über das, was in den Dreißiger-, Vierziger- und Fünfzigerjahren geschehen war.
Erskines doppelt retrospektiver Ansatz ergibt Sinn. Heute hört man das Material mit großem zeitlichem Abstand, die Interviewten können nicht mehr eingreifen. Es bleibt der rohe, direkte O-Ton: das dreckige Lachen eines ehemaligen Zuhälters über körperliche Gewalt – „Sie wollte es so, sie liebte es!“ – oder der Befehl: „Wenn ich dir was erzähle, dann druckst du es auch so!“. Teile von Kuehls Material wurden bereits mehrmals für Buch- und Filmprojekte über Holiday ausgewertet, aber erstmals sind nun die Tonbänder selbst zu hören.
Schwarz, bisexuell, überwacht vom FBI
„Billie – Legende des Jazz“ nähert sich seiner Protagonistin über die Faszination und Erkenntnisse von Linda Kuehl und erzählt so parallel von zwei ungleichen Leben – beide finden ein tragisches Ende. Hier die unbekannte Autorin – weiß, jüdisch, bürgerlich; dort der Weltstar – schwarz, bisexuell, drogenabhängig, polizeilich überwacht: Aus diesem Gegenschnitt entstehen immer wieder spannende Kontraste.
Hintergrund
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Hypnotisierende Tonspulen
Auf der Tonspur funktioniert das immer wieder hervorragend. Auf der Bildebene versucht Erskine, sich mit einem technischen Kniff Billie Holiday zu nähern: Das fast ausschließlich schwarz-weiße Filmmaterial von ihren Auftritten wurde in einem aufwendigen Prozess nachkoloriert. Ausdruck und Aura der Sängerin wirken in diesen Passagen so umwerfend präsent, dass man kaum bemerkt, wie der Rest des Films aus rein illustrativen Fotocollagen zusammenmontiert wird – und wie man von den immer wiederkehrenden Aufnahmen drehender Tonbandspulen hypnotisiert wird.
Linda Kuehl bleibt letztlich ein Mysterium. Aber der Reiz an dieser Art von True Crime liegt darin, wie eine reale Tragödie anhand eines ungelösten Falls erzählt wird – und wie sich dabei persönliche Schicksale und Zeitgeschichte überlagern.