
Bilder des Krieges: Panzer rollen durch die Straßen, Schüsse fallen, Sirenen heulen, Menschen fliehen und fallen zu Boden. Panik und Angst bestimmen die Szene, mit einer wackeligen Handykamera gefilmt, die Qualität ist schlecht. Die Nachrichten sind jeden Tag voll von Videos wie diesem – von den sozialen Medien ganz zu schweigen.
Info
Stille Post
Regie: Florian Hoffmann,
94 Min., Deutschland 2021;
mit: Hadi Khanjanpour, Kristin Suckow, Aziz Capkurt
Weitere Informationen zum Film
Verstörende Bilder
Mittlerweile lebt Khalil als Grundschullehrer in Berlin mit seiner deutschen Freundin Leyla (Kristin Suckow), die bei einer TV-Nachrichtenagentur arbeitet. Sie soll die Authentizität der Aktivistenvideos überprüfen und bittet ihn um Hilfe. Die verstörenden Bilder – und der Gedanke an seine Schwester – lassen Khalil nicht mehr los. Er wendet sich an die kurdische Exilgemeinschaft in der Hauptstadt und versucht, mehr über die Geschehnisse in Cizre zu erfahren.
Offizieller Filmtrailer
Krieg seit Jahrzehnten
Doch Informationen haben ihren Preis: Im Gegenzug soll Khalil dafür sorgen, dass der türkische Militäreinsatz gegen die kurdische Stadt in den deutschen Medien publik wird. Cizre ist seit Wochen abgeriegelt: „Keiner kommt rein, keiner kommt raus“, erklärt ihm ein kurdischer „Bruder“ namens Hamid (Aziz Çapkurt) die Situation. Doch die Bilder aus Cizre erweisen sich im Ringen um öffentliche Aufmerksamkeit schnell als Nachrichten von gestern – schon seit Jahrzehnten führen türkische Truppen einen Krieg gegen die Kurden in der Osttürkei. Daher meinen Leylas Vorgesetzte, die Bilder seien für aktuelle Berichterstattung nicht brisant genug.
„Stille Post“ ist, wie der Titel vermuten lässt, mehr als ein eindringliches Polit-Drama mit Aktualitätsbezug. Was ist eine Nachricht? Wie stark ist die Macht der Bilder? Und wer entscheidet, was heute in den Medien thematisiert wird und was nicht? Es sind große Fragen, die Regisseur Florian Hoffmann stellt – in einem Film, der auf den ersten Blick unscheinbar wirkt, aber eine enorme Sogkraft entwickelt, je mehr Khalils geordneter Alltag aus den Fugen gerät.
Kämpfe im Klassenzimmer
Hoffmann vermittelt nachfühlbar, unter welchem Druck Khalil steht – er fühlt sich zunehmend verpflichtet, für die Menschen in seiner Heimat zu kämpfen; koste es, was es wolle. Mit Leyla manipuliert er schließlich das Videomaterial, um im Wettstreit der Meldungen mithalten zu können. Und Hoffmann zeigt, wie sich die Spannungen, die sein Protagonist spürt, auch auf den deutschen Straßen entladen.
Selbst vor seinem Klassenzimmer macht der jahrzehntealte Konflikt nicht halt, jenseits von Demonstrationen und Gewalt. Wütend verlässt die junge stolze Kurdin Melda (Melda Kanbak) am Morgen nach der Berichterstattung über Cizre den Unterricht, weil sie keine Lust mehr hat, ständig Zielscheibe verbaler Angriffe eines türkischen Mitschülers zu sein.
Handyvideos brechen Melodramatik
Gleichzeitig führt der Film sein Publikum beinahe unmerklich in ein Dilemma: Obwohl es sich der Gefahren von Fake News durchaus bewusst ist, fiebert es mit Khalil und Leyla mit, anstatt sie zu verurteilen, weil ihr Einsatz einer gerechten Sache dient. Der Erfolg ihrer Aktion gibt ihnen Recht. Doch Hoffmann legt es darauf an, dass der Zuschauer sich über die Zulässigkeit ihres Handelns selbst Gedanken macht.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Die Lügen der Sieger" - prägnanter Polit-Thriller über Medien-Manipulation von Christoph Hochhäusler mit Florian David Fitz
und hier eine Besprechung des Films "Babamin Sesi – Die Stimme meines Vaters" – Familienporträt kurdischer Aleviten in der Türkei von Orhan Eskiköy + Zeynal Doğan
und hier einen Beitrag über den Film "Once upon a time in Anatolia" – perfektes Roadmovie als Total-Panorama der Türkei von Nuri Bilge Ceylan
und hier einen Bericht über den Film "Bakur - North" - Doku über die kurdische PKK-Guerilla von Çayan Demirel + Ertuğrul Mavioğlu.
Die Zerissenheit des Außenseiters
Gebannt starrt er immer wieder auf die Bilder – und der Zuschauer auf Hadi Khanjanpour, der diesen schweren Film auf seinen schmalen Schultern trägt. Seine Zerrissenheit, die Hilflosigkeit angesichts der Situation in Cizre, die verzweifelte Hoffnung, dass seine Schwester doch noch am Leben sein könnte: All das zehrt an Khalil, dem Außenseiter, der in seiner Heimat als „Deutscher“ betrachtet wird, aber auch in Berlin trotz Freundin, Job und Neubauwohnung längst nicht angekommen ist.
Hoffmann greift all diese Aspekte auf; er will mit diesem kleinen Film viel bewegen, weil er selbst tief in das Thema eingestiegen ist: Drei Jahre hat er dafür recherchiert. „Stille Post“ kann nicht jeden Aspekt beleuchten, auch nicht jedes Argument hinterfragen – aber der Film ist ein bewegendes Polit-Drama, der die aktuelle Debatte um die Macht der Bilder bereichert.