Halim (Saleh Bakri) und seine Frau Mina (Lubna Azabal) leben in einer engen und leisen Welt: der Altstadt von Salé, einer Nachbarstadt von Marokkos Kapitale Rabat. Durch schmale Gassen laufen kaum Passanten, durch meist mit Gardinen verhängte Fenster dringt wenig Tageslicht. Wenn ein paar Häuser weiter ein Kofferradio mit arabischer Musik läuft, fühlt sich die Nachbarschaft sofort gestört.
Info
Das Blau des Kaftans
Regie: Maryam Touzani,
118 Min., Marokko/ Frankreich/ Belgien 2022;
mit: Lubna Azabal, Saleh Bakri, Ayoub Missioui
Weitere Informationen zum Film
Nachwuchsmangel ohne Nähmaschine
Doch die Geschäfte laufen schlecht. Halim benutzt keine Nähmaschine; dadurch braucht er viel Zeit für jedes Einzelstück, was seinen Preis hat. Zudem fehlt es an Nachwuchs: Mehrere Lehrlinge brachen nach kurzer Zeit ihre Ausbildung ab, weil sie anderswo schneller Geld verdienen können. Ob der neue Youssef (Ayoub Missioui) länger durchhält, muss sich noch zeigen – Mina bezweifelt das.
Offizieller Filmtrailer
Einzelkabine nicht allein betreten
Jeden Morgen zieht Halim die Metall-Jalousie am Schaufenster hoch; den gesamten Tag verbringt das Paar in der Schneiderei. Abends geht Mina vor in die Wohnung, um das Abendessen zuzubereiten; ihr Mann folgt später. Diese langjährige, gut eingespielte Routine mit knappen Wortwechseln durchbricht Halim nur, wenn er ins Hammam geht. Im Männer-Badehaus nimmt er gewöhnlich eine Einzelkabine, die er nicht allein betritt.
Die Monotonie ihres Daseins unterbricht ein Schwächeanfall von Mina. Rasch stellt sich heraus: Sie leidet an unheilbarem Brustkrebs. Zugleich wird deutlich, dass Youssefs Anhänglichkeit durch mehr als sein Interesse am Schneiderhandwerk motiviert ist. Was Halim in arge Gewissensnöte bringt: Während seine Frau dahinsiecht, will ihn sein Lehrling dazu bewegen, sich zu seinen Neigungen zu bekennen.
Frau im Zentrum von Dreiecksbeziehung
Dabei kann von einem Coming-out im landläufigen Sinn keine Rede sein. Doch Regisseurin Maryam Touzani ist gleichsam spezialisiert auf Aspekte von Sexualität, die im islamischen Orient weitgehend tabuisiert werden. Ihr Doku-Debüt „Sous Ma Vieille Peau“ von 2014 behandelte Prostitution in Marokko. Daraus entstand im Folgejahr der Spielfilm „Much Loved“, bei dem ihr Mann Nabil Ayouch Regie führte: ein recht oberflächliches Gruppen-Porträt dreier Edelnutten.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Much Loved" – Gruppen-Porträt von drei Prostituierten in Marokko von Nabil Ayouch
und hier eine Besprechung des Films "Als wir tanzten" - mitreißendes Coming-out-Tanz-Drama aus Georgien von Levan Akin
und hier einen Bericht über den Film "Atlantic." – Drama über eine Windsurfer-Flucht aus Marokko nach Europa von Jan-Willem van Ewijk
und hier einen Beitrag über den Film "Tel Aviv on Fire" - geistreich-absurde Komödie über eine Nahost-Seifenoper von Sameh Zaobi mit Lubna Azabal.
Kleidung sublimiert Erotik-Frust
Sondern auch, weil Mina trotz ihrer Hinfälligkeit subtil die Fließrichtung der Gefühle lenkt. Sie gibt ihrem Mann zu verstehen, dass sie um seine sexuelle Orientierung weiß, doch seinen Umgang mit ihr als ehrenwert achtet – und er daher keine Angst haben solle, zu lieben. Dafür genügen ihr halblaute Bemerkungen und sachte Gesten; ohnehin lebt der ganze Film von diskreten Anspielungen und dezenten Signalen. Insofern ist er ein Indikator dafür, was beim heiklen Thema Homosexualität in Marokko wohl noch als tolerabel gilt.
Genießerisches Schwelgen in Sinnlichkeit gestattet sich „Das Blau des Kaftans“ nur bei der titelgebenden Kleidung. Wenn Halim seinen Kundinnen maßgeschneiderte Stücke anprobiert und Mina edle Stoffe, aufwändige Applikationen und handgewirkte Knöpfe anpreist – dann lassen die Eheleute eine Lust an weltlichen Freuden erkennen, die ansonsten ihrem bescheidenen Dasein fehlt. So sublimiert die Schönheit von feinem Gespinst sogar erotische Frustration.