Filme sind „Träume, die man nicht vergisst“, sagt Sammy Fabelmans Mutter Mitzie (Michelle Williams) ihrem Sohn vor seinem ersten Kinobesuch, der ihm ein wenig Angst einjagt: Es soll dort haushohe Gesichter geben und andere unvorstellbare Dinge. Als dann nach langem Warten in der Kinokassen-Schlange endlich „Die größte Schau der Welt“ (1952) von Cecil B. DeMille beginnt, ist es um den Sechsjährigen geschehen – obwohl ihn danach Alpträume vom Zugunglück im Film plagen. Sie hören erst auf, als er diese Szene mit seiner Spielzeugeisenbahn nachstellt und später filmt.
Info
Die Fabelmans
Regie: Steven Spielberg,
151 Min., USA/ Indien 2022;
mit: Michelle Williams, Paul Dano, Seth Rogen, Gabriel LaBelle, David Lynch
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Ähnlich, aber nicht deckungsgleich
Die Pandemie sorgte für beides; so konnte Spielberg schon lange gehegte Pläne ausarbeiten. Dabei erliegt er aber nicht der Versuchung zu rührseliger Nostalgie, sondern porträtiert eine Familie, die seiner eigenen ähnlich, mit ihr aber nicht deckungsgleich ist. Mutter Mitzie ist spontan, kreativ und eine begabte Pianistin, die aber auf eine Karriere als Profi-Musikerin verzichtet hat. Mitunter agiert sie zu sprunghaft für Vater Burt (Paul Dano); der Computeringenieur nötigt seine Angehörigen, für sein berufliches Fortkommen öfter umzuziehen.
Offizieller Filmtrailer
Kameralinse lässt Familie zerbrechen
Sam hat drei Schwestern. Außerdem sorgt Bennie (Seth Rogen), Daddys bester Freund, als lustiger Ersatzonkel für Leben in der Bude. Überdies zeigt er mehr als Vater Burt Verständnis für Sammys neue Leidenschaft: Bennie überlässt ihm eine Filmkamera, die nicht nur zum Nachdrehen von Lieblingsfilmen taugt. Der Blick durch die Linse enthüllt unabsichtlich auch unangenehme Aspekte der Außenwelt – etwa den allzu vertrauten Umgang seiner Mutter mit dem Onkel, woran die zuvor harmonisch wirkende Familie zerbrechen wird.
Verlust der unschuldigen Kindheit und fragile Familienbande sind zwei Erzählmotive, die in Spielbergs Werk immer wiederkehren. Ihre Auswirkungen aufs Erwachsenwerden haben hier ihren biographischen Ursprung; er wird aber nicht melodramatisch ausgewalzt, sondern altersweise verständnisvoll und ohne Schuldzuweisungen geschildert. Wie es dieser Familie ergeht, ist durchaus exemplarisch für das Mittelklasse-Amerika der 1950/60er Jahre – mit einem kleinen Makel.
Brachialer Bekehrungsversuch
Als einzige jüdische Familie in einer ansonsten rein katholischen, weißen Umgebung gehören die Fabelmans nie ganz dazu, auch wenn dieser Umstand Sam als Teenager (nun gespielt von Gabriel Labelle) einen gewissen Exotenbonus verschafft. Dass seine erste Liebe ihn aber brachial zum rechten christlichen Glauben bekehren will, ist nur fürs Publikum leidlich komisch.
Diese bis ins kleinste Details der Interieurs stimmige Reise in die eigene Vergangenheit, gefilmt von Spielbergs langjährigem Kameramann Janusz Kamiński, spiegelt manche Aspekte seines gesamten Schaffens – wenn er zum Beispiel mit alten Kameras seine ersten filmischen Gehversuche nachstellt. Passagenweise ähnelt „Die Fabelmans“ einem lebendigen Fotoalbum über die Vita des Regisseurs vor seiner Hollywood-Karriere.
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Hintergrund
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Neben solchen Fährten und ironischen Zitaten auf der Meta-Ebene bietet „Die Fabelmans“ auch einfach nur einen Kino-Entwicklungsroman über einen Jungen, der Regisseur werden möchte und dem auf seinem Weg diverse glückliche Zufälle zustoßen. Wie eine in allen Einzelheiten nachgestellte Begegnung mit Western-Legende John Ford (gespielt von Regisseurs-Kollege David Lynch), der in einem seiner seltenen Anfälle von guter Laune dem jungen Aspiranten wegweisende Ratschläge gibt, die immer noch gelten.
Spielberg der besseren Sorte
„Die Fabelmans“ machen so ihrem sprechenden Namen alle Ehre: Der Film erzählt auch dank seines hervorragenden Schauspieler-Ensembles angenehm unsentimental und liebevoll eine sehr persönliche Familienfabel mit viel Charme und sogar Witz. Ein echter Spielberg der besseren Sorte eben.