Steven Spielberg

West Side Story

Anita (Ariana DeBose) und Bernardo (David Alvarez). Foto: Niko Tavernise. © 2021 20th Century Studios. All Rights Reserved.
(Kinostart: 9.12.) Romeo und Julia in der Einwanderungs-Gesellschaft: Den Musical-Welthit von 1961 hat Regisseur Steven Spielberg neu verfilmt. Schwungvoll, opulent und mit hinreißenden Choreographien – ohne die ungelösten Grundkonflikte des Stoffs zu beschönigen.

„West Side Story“ ist einer der am höchsten ausgezeichneten Filme aller Zeiten: Die klassische Kinoversion von 1961 erhielt im Folgejahr sage und schreibe zehn Oscars, dazu drei Golden Globes und einen Grammy. Sie kam auch beim Publikum blendend an und spielte fast das Achtfache ihres Produktionsbudgets von sechs Millionen US-Dollar ein. Höher kann die Latte für eine Neuverfilmung kaum liegen.

 

Info

 

West Side Story

 

Regie: Steven Spielberg,

156 Min., USA 2021;

mit: Ansel Elgort, Rachel Zegler, Ariana DeBose,

 

Weitere Informationen zum Film

 

Reißen wird sie Steven Spielberg vermutlich nicht, obwohl er selbst der kommerziell erfolgreichste Regisseur aller Zeiten ist. Doch er bereitet das mehr als 60 Jahre alte Musical hervorragend für die Gegenwart auf – gerade weil er sich weitgehend am Original orientiert und auf oberflächliche Aktualisierungen verzichtet. So treten die Parallelen zwischen damals und jetzt umso deutlicher zutage; etliches hat sich kaum geändert.

 

Jazz für Weiße, Mambo für Latinos

 

Die „West Side Story“ wurde bei ihrer Uraufführung am Broadway auch deshalb sofort ein Hit, weil sie radikal zeitgenössisch war. Komponist Leonard Bernstein charakterisierte die beiden rivalisierenden Jugendgangs mit damals angesagter Musik: Progressive Jazz für die weißen Kids irischer und polnischer Abstammung bei den „Jets“, Latino-Rhythmen wie Mambo und Cha-Cha-Cha für die „Sharks“, nach New York strömende junge Einwanderer aus Puerto Rico.

Offizieller Filmtrailer


 

Welthauptstadt der Gentrifizierung

 

Das heruntergekommene Viertel der Handlung, in dem die Abrissbirne wütet, wurde zur gleichen Zeit tatsächlich in weiten Teilen in Trümmer gelegt, um Platz für den Hochkultur-Tempel des ab 1959 errichteten Lincoln-Center zu schaffen. Damals konnten Robert Wise und Jerome Robbins noch an Originalschauplätzen drehen; sechs Jahrzehnte später muss Spielberg erkennbar viel Computergrafik einsetzen, weil die alten Straßenzüge längst verschwunden sind. New York ist seit jeher die Welthauptstadt der Gentrifizierung.

 

„Alles, was ich kenne, wird entweder verkauft, abgerissen oder von Leuten übernommen, die ich nicht leiden kann“, klagt Riff (Mike Faist), Anführer der Jets – er dürfte heutigen Modernisierungsverlierern aus der Seele sprechen. Da verwundert nicht, dass Riff und seine Kumpels ihre Aggressionen gegen die Neuankömmlinge richten: Sie ergattern gute Jobs, tragen schicke Anzüge, haben die heißere Musik und die hübscheren Mädchen.

 

Bloc party statt Hofdach

 

Passend zum aktuellen Zeitgeist spielt die Neufassung diese Reize voll aus: 1961 fand das Gesangsduell zum unverwüstlichen Ohrwurm „America“, in dem die Latinos Vor- und Nachteile ihrer neuen Heimat aufzählen, noch auf einem Hofdach statt. Nun verlegt Spielberg es auf eine Straßenkreuzung – an der rauschenden bloc party nimmt die ganze Nachbarschaft teil. Zuvor haben die Puertoricaner auf einem Ball, bei dem sich Maria (Rachel Zegler) und Tony (Ansel Elgort) sofort verlieben, die Bleichgesichter glatt an die Wand getanzt.

 

Selbst ihre Lebensentwürfe machen mehr her: Marias Bruder Bernardo (David Alvarez) ist ein aufstrebender Boxer, der vor einem wichtigen Auftritt im Ring steht – kein frisch entlassener und reumütiger Häftling wie Tony. Auch Bernardos feurige Freundin Anita (Ariana DeBose), die mit Maria in einer Putzkolonne arbeitet, hat große Pläne. Dummerweise verbietet Bernardo, ganz Macho, seiner Schwester den Umgang mit Tony, weil der auf der anderen Seite steht.

 

Balkonszene auf der Feuerleiter

 

Natürlich hält sich Maria nicht daran. Was die ohnehin lodernde Fehde zwischen Jets und Sharks zusätzlich anheizt: Beim Entscheidungskampf zwischen beiden Banden – früher unter der Autobahnbrücke, jetzt sehr effektvoll in einer Streusalz-Lagerhalle – geht Bernardo einen fatalen Schritt zu weit, den er und Riff nicht überleben. Sie werden nicht die einzigen Opfer bleiben.

 

Denn dieses Musical ist seinerseits ein Remake: von Shakespeares Tragödie „Romeo und Julia“. Manche Parallelen sind offensichtlich. Etwa die berühmte Balkonszene, hier auf der Feuerleiter, auf der Maria und Tony zum Song „Tonight“ einander anschwärmen; den Hinterhof garniert Spielberg noch mit Wäscheleinen, als sei es die Altstadt von Neapel.

 

Oscar-Anita als Ladenbesitzerin

 

Andere Tragödien-Elemente wurden aktualisiert. Bei Shakespeare sind die Familien Capulet und Montague verfeindet, aber ebenbürtig. Im Musical setzt die ökonomische Rivalität von Alteingesessenen und Migranten die Handlung in Gang. Zwischen den verfeindeten Lagern steht die Ladenbesitzerin Valentina, bei der Tony jobbt. Sie wird gespielt von Rita Moreno, die einst 1961 die Rolle der Anita übernommen und dafür einen Oscar bekommen hatte – als Bindeglied der beiden Verfilmungen verkörpert Moreno zugleich persönlichen sozialen Aufstieg.

 

Hintergrund

 

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Aufgewertet wird auch die androgyne Gestalt mit dem sprechenden Namen „Anybodys“; sie sucht Anschluss an die Jets, wird aber von ihnen verhöhnt. Spielberg besetzt sie mit einer Trans-Person; auf der Polizeiwache setzt sie sich derart rabiat zur Wehr, dass sie damals wohl als Kampflesbe tituliert worden wäre.

 

Bestmögliche Version für Gegenwart

 

Aus heutiger Sicht sprachlos macht hingegen die alltägliche Gewalt, die der Regisseur wohlweislich nicht domestiziert hat. Ständig werfen die Halbstarken mit Beschimpfungen, Drohgebärden, Remplern und Schlimmerem um sich; das nehmen alle achselzuckend hin. Ein simpler Botengang von Anita artet gar beinahe in eine Gruppenvergewaltigung aus – seither ist Straßenleben wesentlich zivilisierter geworden, nicht nur in New York.

 

Obwohl sich Stimmgewalt und Charisma der Liebespaar-Hauptdarsteller in Grenzen halten und der Film nach seiner furiosen ersten Hälfte handlungsbedingt melodramatisch getragener wird: Mitreißende Choreographien und eine durchweg einfallsreiche Inszenierung machen diese Version der „West Side Story“ zur wohl bestmöglichen fürs 21. Jahrhundert. Gerade weil sie in Retro-Kulissen eindrucksvoll vorführt, wie wenig damalige Grundkonflikte bewältigt sind. Erst sinnloses Sterben bringt die Leute zur Vernunft.