Sie wünscht sich flehentlich ein Zeichen. Mit ihren jüngeren Geschwistern hat Adri auf dem Dach des neu bezogenen Hochhauses einen Bannkreis gezogen. Das Zeichen soll von Gott kommen oder irgendeiner anderen höheren Macht. Sie wartet auf ein Zeichen, weil sich für sie alles falsch anfühlt: ihr Leben und ihr Körper. Die Zwölfjährige fühlt sich in Jungs-Klamotten viel wohler als in Kleidern, und neuen Bekannten stellt sie sich als Junge vor.
Info
L'Immensità –
Meine fantastische Mutter
Regie: Emanuele Crialese,
97 Min., Frankreich/ Italien 2022;
mit: Penélope Cruz, Luana Giuliani, Vincenzo Amato
Weitere Informationen zum Film
Fernseher als Flucht
Doch das Land ist im Aufbruch, was sich für ihre Familie vor allem in einer neuen, komfortablen Wohnung im ruhigen römischen Außenbezirk niederschlägt. Der Blick vom hochgelegen Balkon ist zwar frei, die mit Nußbaumholz getäfelte Wohnung wirkt aber eher wie eine Höhle, in der Clara mit ihren Kinder eingeschlossen ist; dort genießen sie ihre eigenen kleinen Fluchten. Der Fernseher fungiert für sie als Tor zur Welt; insbesondere die Glitzer-Shows, wo Schlagergrößen wie Raffaella Carra oder Adriano Celentano mit aufwendigen Choreografien Herzschmerzlieder oder einfach nur Nonsens in Phantasie-Englisch darbieten.
Offizieller Filmtrailer
Fragiles Familiengefüge
Dann ist die Welt in Ordnung. Sobald aber der Vater auftaucht, ist die Harmonie dahin; Adri (Luana Giuliani) soll sich dann anständig, also mädchenhafter benehmen, und ihr kleiner Bruder bekommt Gelegenheit, ihr gegenüber aufzutrumpfen. Während Adri in den Sommerferien viel Zeit mit ihren neuen Freunden aus der Barackensiedlung jenseits der Straße verbringt, fühlt sich ihre Mutter am gesichtslosen Stadtrand immer isolierter, und das fragile Familiengefüge implodiert.
Wie in seinem Film „Lampedusa“ (2002) zeichnet Regisseur Emanuele Crialese einfühlsam das Porträt einer psychisch angeschlagenen Frau, die sich nicht den konventionellen Normen anpassen kann oder will. Clara ist zu temperamentvoll, impulsiv und auch zu schön, wie Adri einmal beim Stadtbummel bemerkt, um nicht in vielerlei Hinsicht aufzufallen. Dennoch scheint ihr Schmerz unermesslich zu sein; ihn kann sie nur durch kleine Alltagsfreuden und die enge Bindung zu ihren Kindern zeitweise besänftigen.
Intensive Identitätskrise
Dabei ist Adri ihre einzige Vertraute, die jede ihrer Regungen kennt und wie ein Seismograf die Stimmungen der Mutter erfassen und abfangen kann. Diese Aufgabe ist natürlich zu schwer für die Zwölfjährige; sie fühlt sich unverstanden, hadert grundsätzlich mit ihrem Dasein, kann ihr Dilemma aber auch nicht benennen. Mit diesem Identitätskonflikt geht der Film vergleichsweise undramatisch um, was an Adris immer noch recht kindlichen Erzählperspektive liegen mag.
Im Fokus steht eindeutig die von Penélope Cruz (die in der Originalversion Italienisch spricht) eindringlich gespielte Mutter. Sie versucht vehement, sowohl den rigiden gesellschaftlichen Ansprüchen zu genügen als auch sich selbst treu zu bleiben – und scheitert. Crialese selbst bezeichnet „L’immensità – Meine fantastische Mutter“ als seinen persönlichsten Film, der durchaus von der eigenen Kindheit inspiriert sei.
Schwarzweiße Träume von farbigen Shows
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Das Pfauenparadies" - komplexes Familiendrama aus Italien von Laura Bispuri mit Alba Rohrwacher
und hier eine Besprechung des Films "Meine Tochter – Figlia Mia" - provokantes italienisches Familiendrama über eine Zehnjährige mit zwei Müttern von Laura Bispuri
und hier einen Bericht über den Film "Missverstanden – Incompresa" – Künstlerfamilien-Drama eines vernachlässigten Mädchens in Rom von Asia Argento
und hier einen Beitrag über den Film "Der beste Film aller Zeiten" – originelle Komödie über die spanische Filmbranche von Mariano Cohn + Gastón Duprat mit Penélope Cruz
Bei aller visuellen Opulenz tritt jedoch die Geschichte etwas in den Hintergrund. Vieles wird nur angedeutet oder gar nicht ausgeführt. Dass es beispielsweise im damaligen Italien, das noch sehr von katholischen Moralvorstellungen geprägt war, in Adris Familie nicht mehr Widerstand gegen ihr Verhalten gibt und nur die Großmutter sie für ein Foto mal in ein Kleid zwängt, ist vielleicht Ausdruck eines grundsätzlichen Desinteresses an der Halbwüchsigen, vielleicht nur ein Abbild ihrer eigenen Erinnerung.
Kindliche Wahrnehmung
Auch die offensichtlichen Konflikte der Mutter, die in einer lieblosen Ehe steckt, werden nur angedeutet und durch Adris kindlich naive Wahrnehmung gefiltert. Trotz dieser dramaturgischen Schwächen hält der Film, was sein Titel verspricht: Er ist ein visuell intensives Kinoerlebnis mit hervorragenden Akteuren und einem passenden Soundtrack, der Lust aufs Tanzen und Tagträumen macht.