Dominik Graf

Jeder schreibt für sich allein

Sammelbilder-Alben aus der NS-Zeit. Foto: Piffl Medien
(Kinostart: 24.8.) Einübung in Ambiguitätstoleranz: Regisseur Dominik Graf sucht nach Beweggründen von sieben Schriftstellern, die während der NS-Diktatur in Deutschland blieben. Seine Doku beleuchtet ein breites Motiv-Spektrum bei Autoren wie Benn, Kästner und Fallada – von Anbiederung bis Rückzug.

Die zwölf Jahre der NS-Herrschaft sind der am intensivsten beackerte Abschnitt der deutschen Geschichte. Dazu scheint alles gesagt – aber noch nicht von jedem. Ein steter Strom von Büchern, Filmen, Radio-Features und Ausstellungen dreht weiterhin jeden Stein um und stöbert in allen Winkeln, um immer wieder aufs Neue die Frage aller Fragen zu beantworten: Wie war es möglich?

 

Info

 

Jeder schreibt für sich allein

 

Regie: Dominik Graf,

167 Min., Deutschland 2023;

mit: Florian Illies, Christoph Stölzl, Julia Voss, Günter Rohrbach

 

Weitere Informationen zum Film

 

Was interessiert Dominik Graf, einen der profiliertesten und produktivsten Autorenfilmer des Landes, an diesem Thema? Offenbar ein Buch von Anatol Regnier: Der 1945 geborene Enkel des Dramatikers Frank Wedekind hat bereits ein halbes Dutzend Bücher über seine illustre Familie und das kulturelle Leben in der Zwischenkriegszeit publiziert.

 

Werkgetreu verfilmter Essayband

 

2020 erschien „Jeder schreibt für sich allein“. Darin widmet sich Regnier dem Werdegang von sieben Schriftstellern, die während des NS-Regimes nicht emigriert sind, und den Beweggründen für ihr Tun: von Nazi-Karrieristen wie Hanns Johst und Will Vesper bis zum innerlich zerrissenen und schwer suchtkranken Hans Fallada. Diesen Essayband hat Regisseur Graf nun werkgetreu verfilmt – nur die Blut-und-Boden-Dichterin Agnes Miegel entfiel, zugunsten des protestantisch konservativen Autors Jochen Klepper.

Offizieller Filmtrailer


 

Es gibt keinen typischen Nazi-Charakter

 

Der Auftakt ist eher wolkig. Bei den Nürnberger Prozessen 1945 machte ein US-Psychiater mit den angeklagten Nazi-Größen Rorschach-Tests – dabei assoziieren Probanden frei zu symmetrischen Tintenklecks-Bildern. Nach jahrelanger Deutelei kam heraus: Manche Ergebnisse lassen auf Psychotiker, andere auf harmlose Personen schließen. Es gibt keinen typischen Nazi-Charakter. Für diesen Befund nimmt sich Graf gut zehn Minuten; auch der übrige, fast dreistündige Film hat es nicht eilig.

 

Was auch an seinem polyphonen Aufbau liegt: Als Reiseführer durch das Dickicht von sieben Biographien fungiert Regnier selbst – mal an Original-Schauplätzen ihres Wirkens, mal am heimischen Schreibtisch. Er macht seine Sache gut, ist ein lebendiger Erzähler und hebt prägnante Details pointiert hervor. Außerdem zitiert eine Off-Stimme ausführlich die Porträtierten selbst: aus ihren veröffentlichten Schriften, Manuskripten, Briefen oder Tagebucheinträgen, während passende Archivbilder eingeblendet werden.

 

Produzent Rohrbach sagt, wie es war

 

Zusätzlich hat Graf mehr oder weniger renommierte Kenner der Epoche befragt; seine Interview-Kacheln mit Doppel-Perspektiven vor schwarzem Hintergrund wirken teils etwas manieriert. Der jüngst verstorbene Christoph Stölzl erinnert eindringlich an die kollektive Verrohung im Ersten Weltkrieg und verschwindet danach von der Bildfläche. Die unermüdliche Raubkunst- und Nazi-Jägerin Julia Voss, früher Kunstkritikerin und heute Professorin, wettert gegen „Narzissmus und Empathielosigkeit“ bei Gottfried Benn, findet aber warme Worte für Ina Seidel wegen ihrer lesbischen Liebschaft.

 

Die sehr altbundesdeutsche Haltung, allseitige NS-Verstrickung anzuklagen, vertritt der 88-jährige Schriftsteller Albert von Schirnding. Dagegen lotet der Allround-Intellektuelle Florian Illies nuanciert Zeitumstände und individuelle Motivlagen aus. Die interessantesten Redebeiträge liefert der Filmproduzent Günter Rohrbach, eine zentrale Figur des deutschen Autorenkinos. 1928 geboren, hat er als einziger Mitwirkender die Nazi-Ära selbst erlebt – seine Schilderung, wie sich die deutsche Volksstimmung zwischen Machtübernahme und bedingungsloser Kapitulation gewandelt hat, liefert die historische Kontrastfolie, vor der sich das Septett abhebt.

 

Als Militärarzt oder auf dem Bauernhof

 

Die längste Zeit, insgesamt rund eine Stunde, werden Gottfried Benn und Erich Kästner behandelt. Verständlich: Sie sind nicht nur die bis heute bekanntesten Autoren, sondern legten auch das widersprüchlichste Verhalten an den Tag. Benn diente sich anfangs dem NS-Regime an, fiel aber bald in Ungnade und verbrachte die restlichen NS-Jahre frustriert als Militärarzt. Kästner musste 1933 mit ansehen, wie seine Bücher verbrannt wurden, lavierte sich in den Folgejahren durch und bezog nach 1945 nie eindeutig Stellung; das Rätsel, warum er in Deutschland blieb, kann auch der Film nicht lösen.

 

Erfolgs-Romancier Hans Fallada verbrachte zwölf Jahre auf einem Bauernhof in der tiefsten Provinz, haderte mit sich und der Welt, ging zuweilen auf Nazi-Forderungen ein – und schrieb 1946 kurz vor seinem Tod mit „Jeder stirbt für sich allein“ ein Schlüsselwerk über den Widerstand kleiner Leute, der fast 60 Jahre später neu übersetzt zu einem Weltbestseller werden sollte.

 

Entlastet oder Bertelsmann-Herausgeber

 

Außergewöhnlich ist das Schicksal des heute kaum noch gelesenen Jochen Klepper. Der anerkannte Dichter geistlicher Lieder landete 1937 mit dem historischen Roman „Der Vater“ über das Verhältnis von Friedrich II. zum preußischen Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. einen großen Erfolg – dennoch hatte er wegen seiner jüdischen Frau und deren Töchtern arge Probleme im NS-Staat. Als 1942 ihre Deportation drohte, beging die Familie Selbstmord.

 

Am anderen Ende der Skala stieg Hanns Johst als Chef der Reichsschrifttumskammer zum Duzfreund von „Reichsführer SS“ Heinrich Himmler auf – und schaffte es trotzdem, 1955 entlastet zu werden. Der prominente NS-Polemiker Will Vesper war nach dem Krieg sogar noch als Herausgeber des Bertelsmann-Verlags tätig. In Auseinandersetzung mit ihm schrieb sein Sohn Bernward „Die Reise“. Das Buch verarbeitet sehr differenziert ihren vergangenheitsbedingten Generationskonflikt, kam aber erst sechs Jahre nach seinem Freitod 1971 heraus.

 

„Ich bin kein sehr mutiger Mensch“

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Fabian oder Der Gang vor die Hunde" – atmosphärisch stimmige Verfilmung des Roman-Klassikers von Erich Kästner durch Dominik Graf

 

und hier eine Besprechung des Films "Die geliebten Schwestern" – brillantes Biopic über Friedrich Schillers Dreiecksbeziehung von Dominik Graf

 

und hier einen Beitrag über den Film "Was heißt hier Ende? Der Filmkritiker Michael Althen" – facettenreiches Doku-Porträt von Dominik Graf

 

und hier eine Kritik des Films "Heimat ist ein Raum aus Zeit" – resignative Brief-Chronik des 20. Jahrhunderts mit besonderer Berücksichtigung der NS-Zeit von Thomas Heise

 

und hier einen Bericht über den Film "Jeder stirbt für sich allein" – Verfilmung des Romans von Hans Fallada über Widerstand + NS-Verfolgung durch Vincent Pérez.

 

Bernward Vesper war bis 1968 Lebensgefährte der späteren RAF-Terroristin Gudrun Ensslin; beide hatten ein gemeinsames Kind. Dass etliche Angehörige der 68er-Generation bei ihrem Protest gegen die Schuld der Väter ein vergleichbar totalitäres Weltbild pflegten und zu ebenso mörderischen Mitteln wie die Nazis griffen, ist die bittere Pointe des Films. Zuvor hat er Kernbegriffe der Debatte über die Kulturelite in der NS-Epoche wie „innere Emigration“ oder „Trennung von Werk und Autor“ bündig, doch kompetent diskutiert.

 

Am prägnantesten bringt es Günter Rohrbach auf den Begriff: Damals mussten Deutsche davon ausgehen, auf unabsehbare Zeit in der NS-Diktatur zu leben, ob sie wollten oder nicht. Darauf richteten sie sich ein, widerstrebend oder nicht. „Ich bin kein sehr mutiger Mensch, ich kann nur viel ertragen“, schrieb Hans Fallada einem Freund.

 

Siehe Stalin- und Putinismus

 

Er dürfte vielen Zeitgenosssen aus dem Herzen gesprochen haben. Umso abstoßender ist der selbstgerechte Gratismut, mit dem heutzutage häufig alle, die nicht entschieden den Nationalsozialismus bekämpften, moralisch verurteilt werden. Dagegen pocht Regisseur Graf zurecht auf Ambiguitätstoleranz: das Spektrum verschiedener Verhaltensweisen akzeptieren.

 

Wer glaubt, dass sei allein oder vorrangig ein deutscher Problemkomplex, sollte anfangen, sich mit dem sowjetischen Stalinismus zu beschäftigten. Und wer denkt, die ideologiegetränkten Diktaturen des 20. Jahrhunderts seien Vergangenheit, braucht nur die Machttechniken des Putinismus und die Reaktionen in der russischen Gesellschaft studieren.