Auch Klassiker haben klein angefangen: 1788 ist Friedrich Schiller (1759-1805) schon ein berühmt-berüchtigter Dichter durch seine skandalumwitterten Dramen wie „Die Räuber“ oder „Kabale und Liebe“, aber praktisch pleite. Seine Anstellung als Militärarzt hat er aufgegeben, aus Württemberg ist er 1782 geflohen. Seither zieht er unstet durch deutsche Länder.
Info
Die geliebten Schwestern
Regie: Dominik Graf,
139 Min., Deutschland 2013;
mit: Hannah Herzsprung, Florian Stetter, Henriette Confurius, Claudia Messner
Eine heiraten, mit anderer schlafen
Beide Schwestern sind ein Herz und eine Seele; sie nehmen Schiller in ihren Lebensbund auf. Davon zeugen stapelweise codierte Briefe, von denen manche später verschwanden; so lässt sich die Dreiecks-Beziehung nicht mit letzter Sicherheit beweisen, aber sehr wahrscheinlich gab es sie. Um das zu kaschieren, soll Friedrich Charlotte ehelichen – doch als diese nach Weimar gerufen wird, verbringt er mit Caroline eine Liebesnacht.
Offizieller Filmtrailer
Schweizer adoptieren Neugeborenes
Dennoch heiraten Friedrich und Charlotte in Jena – nachdem sie seine bisherige Gönnerin Frau von Kalb ausgeschaltet und er eine Professur an der dortigen Universität erhalten hat. Erst als die Frischvermählte ihrer Schwester gesteht, dass sie mit ihrem Gatten die Ehe nicht vollzieht, kommt es zum Bruch – Caroline will nicht im Weg stehen.
Fünf Jahre später treffen sich Friedrich und Caroline zufällig in Tübingen. Während Charlotte das erste Kind ihres Mannes erwartet, wird auch Caroline schwanger. Davon darf der ungeliebte Beulwitz nichts erfahren. Schillers alter Studienfreund Wilhelm von Wolzogen (Ronald Zehrfeld) begleitet Caroline in die Schweiz; dort gibt sie das Neugeborene in fremde Hände, lässt sich von ihrem ersten Mann scheiden und heiratet Wolzogen. Charlotte ist entsetzt.
Gesellschafts-Zwang erledigt ménage à trois
1802 versucht Mutter Louise auf dem Sterbebett, ihre Töchter miteinander auszusöhnen. Doch das gelingt erst, als der kränkliche Schiller einen Anfall erleidet, der sie wieder zusammenführt. Allerdings hält die Dreisamkeit nicht lange: 1805 stirbt der Dichter an einer Lungenentzündung.
So tragisch endet die aufregendste ménage à trois der deutschen Literaturgeschichte. Schiller und seine Herzensdamen versuchten, polyamourös zu leben – nicht im Konkubinat oder als heimliche Liaison, sondern in vertrauensvoller Gemeinschaft von Gleichgesinnten. Womit sie fast 180 Jahre, bevor der Begriff „freie Liebe“ aufkam, scheitern mussten: mehr an gesellschaftlichen als an selbst auferlegten Zwängen.
Keine Zeit für romantische Liebe
Das macht der Film von Dominik Graf wunderbar deutlich. Bei allen idealistischen Höhenflügen sind die drei keine Engel und Eifersucht, Neid oder Ranküne ihnen nicht fremd. Doch dürften sie, wie sie könnten, würden Toleranz und Großmut wohl obsiegen und das fragile Beziehungs-Dreieck beisammen halten. Aber die Verhältnisse sind nicht so.
Hintergrund
Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.
Lesen Sie hier das Interview "Faszinierende Liebesbrief-Debatte" - Regisseur Dominik Graf über "Die geliebten Schwestern".
und hier eine Besprechung des Films "The Invisible Woman" - Historiendrama über die heimliche Geliebte von Charles Dickens von und mit Ralph Fiennes
und hier einen Bericht über den Film “Tabu– Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden“ von Christoph Stark über die inzestuöse Liebe des Dichters Georg Trakl + seiner Schwester mit Lars Eidinger
und hier einen Beitrag über den Film "Ludwig II." - Biopic über den bayerischen Märchenkönig mit Hannah Herzsprung als Kaiserin Sisi.
Prokrustesbett der Trauschein-Beziehung
Fragt sich, ob sie es seither je geworden ist. Freigeister aller Epochen haben dieses Konzept aufgegriffen: die bohémiens und Lebensreformer, die Bloomsbury Group und beatniks, Anarchisten, Hippies, Kommunarden und viele mehr. Ihr Bestreben, frei flottierender Zuneigung keine Fesseln anzulegen, kehrte nach einer Weile stets zurück ins Prokrustesbett der monogamen Zweierbeziehung mit Trauschein: ein rechtlich bis ins Kleinste geregeltes Vertragsverhältnis. Keine Alternative, nirgends?
Die Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit spielt Regisseur Graf in einer Nebenhandlung durch: der französischen Revolution von 1789. Anfangs zählt Schiller zu ihren glühenden Anhängern – bis ihm sein Freund Wolzogen von den Gräueltaten mit der Guillotine im terreur berichtet. Danach bemüht sich der Dichter um die Konsolidierung seiner privaten Verhältnisse parallel zur politischen Restauration. Posthum wird er als gezähmtes Genie der deutschen Klassik im Bücherregal stehen.
Wie Bildungsbürger in Nachbarschaft
Wie es dazu kommen konnte, bebildert Dominik Graf gewohnt formvollendet: mit leidenschaftlich auftrumpfenden Schauspielern, detailgetreu nachempfundenem Zeitkolorit und souveräner Inszenierung, die trotz zahlreicher Schauplätze und Mitwirkender jederzeit den Überblick behält. Trotz 225 Jahren Abstand sieht diese Schiller-Affäre so gegenwärtig aus, als würde sie sich bei Bildungsbürgern in der Nachbarschaft abspielen. Was zeigt, wie aktuell und ungelöst die Frage geblieben ist: Was tun mit zarten Gefühlen abseits der Norm?