Es gibt keine Gewissheiten, alles ist verschwommen und beliebig neu interpretierbar – das ist die Grundlage jedes guten Thrillers. Doch während man im Alltag irgendwann lernt, die Ungewissheiten des Lebens zugunsten der eigenen geistigen Gesundheit zu ignorieren, holt der Thriller dieses negative Gefühl vorsätzlich zurück ins Bewusstsein.
Info
Burning Days
Regie: Emin Alper,
127 Min., Türkei 2023;
mit: Selahatti̇n Paşali, Eki̇n Koç, Erdem Şenoca, Erol Babaoğlu
Weitere Informationen zum Film
Der Grund so weich wie Treibsand
Diese Sinklöcher habe es schon immer gegeben, lässt ihn der Bürgermeister wissen. Dagegen könne man nichts machen. Sie hätten auch nichts mit der verstärkten Ausbeutung des Grundwassers zu tun, die den steigenden Bedarf der Bewohner decken soll. „Der Grund hier ist weich wie Treibsand“, warnt dagegen der Journalist Murat (Ekin Koç), als er Emre beim Baden in einem vermeintlich abgelegenen See überrascht.
Offizieller Filmtrailer
Demokratie als Ritual
Es gibt keine wirkliche Privatsphäre in Yaniklar, alle haben ihre Augen überall. Und es laufen sich ständig dieselben Menschen über den Weg. So ist der schleimige Anwalt Şahin (Erol Babaoglu), der Emre zusammen mit einem Kumpanen seine Aufwartung macht, gleichzeitig der Sohn des Bürgermeisters. Sein Geprotze über seine Jagdkünste ist unschwer als Drohung zu erkennen.
Als in der Stadt die Bürgermeisterwahlen anstehen, ist der Wassernotstand das Wahlkampfthema Nummer Eins. Dabei scheint der Ausgang von vornherein festzustehen. Demokratie ist in Yaniklar eine Verhandlungssache zwischen den Mächtigen, nicht das Resultat einer öffentlichen Entscheidungsfindung. Die Wahlen dienen entsprechend eher als Ritual, ohne je wirklich etwas zu ändern.
Eine Falle für den Staatsanwalt
Wohl auch deswegen zögert Emre, der von allen mit „Herr Staatsanwalt“ angeredet wird, lange damit, auf die wiederholten privaten Einladungen des Bürgermeisters einzugehen. Als er irgendwann doch nachgibt, wird es ein langer Abend mit starkem Raki, Musik, Tanz und Machogehabe. Am folgenden Morgen erwacht Emre mit schwerem Kopf, verschwommenen Erinnerungen und geröteten Hautstellen, die verdächtig an Knutschflecken erinnern.
Die Vergewaltigung eines Roma-Mädchens wird angezeigt, auch sie war auf der Party zugegen. Der Staatsanwalt ist sich sicher, wer die Schuldigen sind und leitet die entsprechenden Schritte ein – ohne Rücksicht auf die lokalen Machtstrukturen. Das kann natürlich nicht gut gehen, wie schon der Score aus düsteren Streicherklängen von Beginn an deutlich macht.
Parabel in Erdfarben
Die Atmosphäre wird zunehmend klaustrophobisch, die Hitze unerträglich. Man entkommt ihr nicht, und auch für das Auge gibt es kaum Abwechslung von den Erdfarben, in die Landschaft und Stadt gleichermaßen getaucht sind. Das enge Geflecht an persönlichen Verstrickungen und Abhängigkeiten lässt den Menschen kaum Luft zum Atmen.
Hintergrund
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und hier eine Kritik des Films "Grain – Weizen" – türkische Öko-Science-Fiction-Dystopie auf Sufismus-Basis von Semih Kaplanoğlu.
Gesellschaft am Abgrund
So ist Emre kein strahlender Held, sein Vorgehen enthüllt eher eine Mischung aus jugendlichem Ehrgeiz und Selbstgerechtigkeit. Die nur wenige Jahre ältere Richterin Zeynep (Selin Yeninci) – neben dem Vergewaltigungsopfer übrigens die einzige Frauenfigur im Film – gibt ihm zu verstehen, dass brachiale Direktheit wenig bringt, wenn er etwas verändern will in dieser Welt der fest im Sattel sitzenden Männerbünde. Auch die Agenda des Journalisten Murat wirkt uneindeutig.
Die homoerotische Anziehung zwischen ihm und Emre wird nur angedeutet als Möglichkeit ohne Raum zur Entfaltung. Wie alles andere hat sich die Sexualität den traditionellen Machtstrukturen unterzuordnen. Diese Beschränkung der Individualität durch die Gesellschaft war auch Thema von Alpers letztem Film „Die Geschichte von drei Schwestern“ (2019). Das Schlussbild von „Burning Days“ ist so beklemmend wie eindeutig: Justiz und Presse stehen am Abgrund, und die Gesellschaft droht in die Löcher zu fallen, die sie sich selbst gegraben hat.